Welcome at the website of Gesellschaft für bedrohte Völker. Your currently used browser is outdated, probably insecure, and may cause display errors on this website. Here you can download the most recent browsers: browsehappy.com

Kurdistan. Reise nach Rojava

Von Kamal Sido

Göttingen, Bozen, 29. Dezember 2016

Überfahrt am Grenzübergang Sêmalka über den Tigris. Foto: Kamal Sido / GfbV.

„Die Fluchtursachen sollten hier vor Ort bekämpft werden. Wir erwarten, dass Deutschland, Europa und Amerika uns dabei unterstützen. Wir sind dabei, ein multiethnisches und -religiöses Projekt in Rojava-Nordsyrien zu etablieren. Wir wollen alle Minderheiten unabhängig von ihrer Religion/Ethnie/Sprache hier in Nordsyrien fördern und wir erwarten Unterstützung nicht nur von der Öffentlichkeit, sondern auch von den Regierungen. Dieses Projekt, das wir hier in Nordsyrien angefangen haben, könnte man auch in ganz Syrien umsetzen, sodass verschiedene Religionen/Ethnien/Konfessionen friedlich, frei und gleichberechtigt leben können. In der Verwaltung sind heute alle hier lebenden Minderheiten vertreten. Das Recht auf Muttersprache, Glaubensfreiheit und Meinungsfreiheit ist hier garantiert. Alle diese Rechte sind in dem gesellschaftlichen Vertrag erwähnt. Drei Sprachen wurden zu offiziellen Sprachen der Region erklärt: Arabisch, Kurdisch, Aramäisch.“
Elizabeth Koriyeh, Christin aus Qamischli

Der Nahostreferent der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV), Dr. Kamal Sido, fuhr vom 12. März bis zum 3. April 2016 nach Rojava-Nordsyrien, um sich ein eigenes Bild von der Lage in dem Gebiet zu machen. Während dieser Reise hat Kamal Sido viele verschiedene Personen interviewt: Angehörige verschiedener Volksgruppen, institutionelle Vertreter und normale Bürger.

In den westlichen Medien ist zum Teil immer noch das Bild der „guten Revolutionäre“ und des „bösen Regimes“ in Syrien präsent. Doch diese Darstellung ist spätestens seit dem Auftauchen der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ (IS); früher auch bekannt als „Islamischer Staat im Irak und Syrien“ (ISIS) oder „Islamischer Staat im Irak und in der Levante“ (ISIL), überholt. Heute muss zur Kenntnis genommen werden, dass die sogenannte Freie Syrische Armee (FSA) in Syrien von Islamisten vollständig unterwandert ist. Die Zivilbevölkerung leidet im ganzen Land enorm unter dem seit 2011 tobenden Bürgerkrieg. Insbesondere die Situation der Minderheiten verschlechtert sich Tag für Tag. Sehr viele Minderheitenangehörige haben aus Angst vor Diskriminierung oder Überfällen bereits das Land verlassen. Es ist ihnen nicht möglich, in Sicherheit zu leben, da überall die Gefahr einer Entführung, Hinrichtung oder Folter droht. Innerhalb Syriens fliehen Angehörige der ethnischen und religiösen Minderheiten entweder in das vom Regime beherrschte Gebiet an der syrischen Mittelmeerküste im Westen, nach Damaskus oder in den Norden nach RojavaNordsyrien.

Frauen und Kinder auf dem Weg zum Newroz-Fest. Foto: Kamal Sido / GfbV.

In Syrien gibt es ungefähr 3.000.000 Kurden. Sie stellen etwa 15 Prozent der Bevölkerung und leben in zwei im Norden liegenden – nicht miteinander verbundenen – Enklaven Jazire/Cazîra (1) und Afrin. Dieses Gebiet, das in diesem Bericht Rojava-Nordsyrien genannt wird, hat verschiedene Bezeichnungen, deren Benutzung einiges über die politischen Ansichten eines Gesprächspartners verraten kann: Kurden aus den Reihen der Partei der Demokratischen Union (PYD), der führenden Kraft in Nordsyrien, nennen dieses Gebiet „Rojava“. Dieser Begriff ist eine Ableitung oder Abkürzung von dem kurdischen Namen „Rojavayê Kurdistan“. (2)

Anhänger von Masud Barzani, dem amtierenden Präsidenten von Irakisch-Kurdistan, die in Konkurrenz mit den Kurden aus dem Umfeld der in Deutschland verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) (3) stehen, sprechen hingegen von „Kurdistana Suriyê“. (4)

Von vielen Assyrern/Aramäern und Arabern wird das Gebiet schlicht als „Nordsyrien“ bezeichnet. Hier ist anzumerken, dass die PYD bzw. die PKK viel flexibler mit der Bezeichnung umgehen als die anderen Gruppierungen. Wenn Assyrer/Aramäer oder Araber, die neben den Kurden in diesem Gebiet leben, die Bezeichnung „Kurdistan“ ablehnen, wird einfach „Rojava“ (5) gesagt. So einigten sich Vertreter der PYD und anderer kurdischer Parteien sowie Repräsentanten einiger assyro-aramäischen, arabischen und turkmenischen Organisationen auf die Bezeichnung „Rojava-Nordsyrien“, als sie am 17. März 2016 ihre Absicht über die Bildung einer Föderation für Nordsyrien kundtaten.

Zunächst hatten die Kurden es geschafft, in den Wirren des syrischen Bürgerkrieges eine „Oase des Friedens“ aufzubauen. Ziel war jedoch kein eigener Staat, sondern der Beginn eines demokratischen Syriens mit einer Selbstverwaltung in einem föderalen Land. Dazu gehörten auch Minderheitenschutz und politische Freiheiten für alle Bevölkerungsgruppen. Ab 2013 entstand eine eigene Selbstverwaltung mit einer Regierung, Quoten für die verschiedenen Minderheiten abhängig von deren Bevölkerungsanteil, Gleichberechtigung der Frau, Kulturzentren und einer eigenen Miliz und Polizei. Die Polizei (6) und die Volksverteidigungseinheiten (YPG) (7) haben Rojava-Nordsyrien in den vergangenen Jahren erfolgreich gegen den Islamischen Staat (IS) und andere Radikalislamisten verteidigt.

Auch die militärischen Fraueneinheiten (YPJ) (8) sind mit 30 bis 40 Prozent an den militärischen Strukturen beteiligt. Das gilt auch für die Polizei und die zivile Verwaltung. So ist es den Kurden und ihren Verbündeten, den Syrian Democratic Forces (SDF), der arabischen Miliz des Schammar-Stammes (9) und der christlichen Sutoro-Miliz gelungen, nahezu die gesamte Provinz Al-Hasakeh im äußersten Nordosten von Syrien, die benachbarten Distrikte Tall Abyad (10) und Kobani im Norden sowie Afrin (11) im äußersten Nordwesten Syriens unter ihre Kontrolle zu bringen und zu verteidigen. Doch die Kurden stehen vor zahlreichen Problemen, die die aufgebaute Selbstverwaltung zunichtemachen könnten: Zum einen werden ihre Gebiete seit über zwei Jahren von Radikalislamisten angegriffen; die kriegerischen Auseinandersetzungen sind heftig und die Zivilbevölkerung wird immer öfter Ziel der radikalislamischen Kräfte.

Zum anderen steht Rojava unter einem Embargo der lokalen Mächte: Im Süden gibt es die Blockade durch die Radikalislamisten, im Norden baut die Türkei eine Mauer und hält alle Grenzübergänge geschlossen. Auch die Grenze zu Irakisch-Kurdistan im Osten ist nicht ganz offen. Der Grenzübergang Fish Khabour (Sêmalka) ist unter der Kontrolle der Demokratischen Partei Kurdistans (DPK Irak) des irakisch-kurdischen Präsidenten Masud Barzani. Die Beziehungen zwischen der DPK Irak und der PYD bzw. der PKK sind gerade von einer heftigen Konkurrenz gekennzeichnet. Von diesem innerkurdischen Streit ist auch der Grenzübergang Sêmalka betroffen. Immer wieder wird der Grenzübergang geschlossen. Wenn überhaupt, können nur Einzelpersonen diese „kurdisch-kurdische“ Grenze mit einem Motorboot über den Tigris überqueren. Dieses totale Embargo hat fatale Folgen für die Zivilbevölkerung in RojavaNordsyrien: Medikamente und Lebensmittel werden immer knapper und die Menschen verarmen zunehmend. In Notunterkünften fehlen Brennstoffe für Heizung und das Kochen und es brechen Infektionskrankheiten aus.

Beliebtes Fotomotiv: Schild 'Willkommen in Kobani', Kurdisch: 'Hûn bi xêr hatin Kobanê'. Foto: Kamal Sido. Beliebtes Fotomotiv: Schild "Willkommen in Kobani", Kurdisch: "Hûn bi xêr hatin Kobanê". Foto: Kamal Sido / GfbV.

Was ist die Partei der Demokratischen Union (PYD)

Die Partei der Demokratischen Union (PYD) (12) wurde 2003 auf Beschluss der PKK gegründet, der sie offiziell jedoch ausschließlich ideologisch, nicht organisatorisch, nahesteht, da sie ebenfalls Abdullah Öcalan als ihren geistigen Führer betrachtet. Der bewaffnete Arm der PYD, bestehend aus den Volksverteidigungseinheiten YPG und YPJ, ist aktuell eine der wichtigsten syrischen Milizen im Kampf gegen den IS. Das offizielle Ziel der PYD ist die Errichtung einer demokratischen Autonomieregierung in Nordsyrien, die de facto bereits seit 2012 existiert. Sie PYD will also eine autonome Region innerhalb existierender Grenzen errichten, die durch kommunale Basisorganisationen statt durch Staatlichkeit zusammengehalten wird. Innerhalb der Autonomieregion hat es sich die Partei zum Ziel gesetzt, „die Rechte und Freiheiten aller ethnischen, religiösen und anderen Minderheiten Gruppen/Gemeinden – in einer allumfassenden und genauen Konstitution zu garantieren“. Die PYD hat eine Doppelspitze mit vorgeschriebener Frauenquote. Ihre Vorsitzenden sind Salih Muslim (seit 2010) und Asya Abdullah (seit 2012).

Die Situation der Flüchtlinge

In der Provinz Al-Hasakeh gibt es mindestens drei Flüchtlingscamps. Die meisten Flüchtlinge kommen jedoch privat unter. In den Flüchtlingslagern leben zehntausende Menschen. In Einzelgesprächen haben Vertreter der autonomen Selbstverwaltung immer wieder an die deutsche und andere europäischen Regierungen appelliert, den Flüchtlingen vor Ort zu helfen. „Wir brauchen dringend Unterstützung im medizinischen Sektor, bei der Bereitstellung von Trinkwasser und Elektrizität und im Bereich Erziehung. Außerdem müssen die Straßen dringend saniert werden“, sagte Hussein Azzam, Vize-Präsident des Exekutiven Rates der Autonomiebehörde in Cazîra, der seinen Sitz in Amuda hat. Da die Grenzübergänge von der Türkei und vom Irak nach Rojava faktisch geschlossen sind, sind kaum Hilfsorganisationen vor Ort. Aus diesem Grund ist die medizinische Situation in den drei Flüchtlingslagern sowie in Rojava insgesamt sehr schlecht. Besonders chronisch Kranke, wie Diabetiker oder Dialyse-Patienten, leiden extrem unter dem großen Mangel an Medikamenten. Es fehlen auch Antibiotika und Impfstoffe. Da aus den umkämpften Regionen immer mehr Binnenflüchtlinge in Rojava ankommen, verschlechtert sich die Situation weiter. Niemand weiß, wie viele Menschen Zuflucht in Rojava gefunden haben. Man geht insgesamt von mindestens 500.000 Flüchtlingen in Al-Hasakeh aus. Hinzu kommen etwa 300.000 bis 500.000 in Afrin. Diese Zahlen ändern sich ständig. Viele Menschen wandern über die Türkei und Irakisch-Kurdistan nach einer bestimmten Aufenthaltszeit weiter nach Deutschland und Europa.

2012 soll die Zahl der Binnenflüchtlinge, die in Rojava Zuflucht fanden, mehr als 1.300.000 Millionen betragen haben. Viele der Flüchtlinge wurden damals bei Verwandten untergebracht, einige lebten jedoch in großen Gebäuden wie Turnhallen oder Schulen. Viele Menschen in Rojava-Nordsyrien sind irritiert bis wütend auf die Syrien-Politik des Westens. In Gesprächen mit Christen wurde der Autor oft danach gefragt, „aus welchem Grund Deutschland, die EU und die USA die Islamisten und die türkische Regierung unterstützen“. Die überwiegende Mehrheit der Christen in Syrien ist der Meinung, dass westliche Regierungen durch die Unterstützung der von Islamisten unterwanderten syrischen Opposition (Syrische Nationale Koalition) dazu beitragen, dass immer mehr Christen Syrien verlassen werden. „Sie hätten doch wissen müssen, dass, wenn diese Gruppen die Macht übernehmen, sie die Christen ausrotten werden“, sagte ein syrischer Christ.

Die Christen fordern die europäischen Regierungen auf, jegliche Unterstützung für die Syrische Nationale Koalition einzustellen, weil diese faktisch radikal-islamistische Gruppen in Syrien fördere, die wiederum Christen vertreiben. Sie bitten Europa auch, den Christen vor Ort in Syrien zu helfen. „Wenn hier vor Ort in Rojava geholfen wird, dann werden die Menschen das Land nicht verlassen“. Die Fluchtursachen müssten vor Ort bekämpft werden, dann kämen nur wenige nach Europa. „Wir wollen nicht nach Europa und in den überfüllten Asylheimen leben. Der SDF, der YPG und der Sutoro muss geholfen werden, damit sie noch erfolgreicher den IS bekämpfen, damit wir den radikalen islamistischen, faschistischen Terror besiegen können.“ Viele Christen scheinen entschlossen zu sein, Seite an Seite mit den Kurden, gegen den IS und andere radikale Islamisten zu kämpfen. „Das ist unsere Erde, die Erde unserer Vorfahren. Wir wollen hier nicht weg. Wir werden nicht nach Europa kommen und in den Asylunterkünften leben.“

Noten:
1 Cazîra (Provinz Al-Hasakeh): Hier wird das Gebiet vom Euphrat bis zum Tigirs inkl. Kobani gemeint.
2 Deutsch: Westkurdistan.
3 Das Operationsgebiet der PKK ist zwar primär die Türkei, sie ist aber auch in den benachbarten kurdischen Gebieten aktiv.
4 Deutsch: Syrisch-Kurdistan.
5 Deutsch: Der Westen.
6 Kurdisch: Asyayîs.
7 Kurdisch: Yekîneyên Parastina Gel.
8 Kurdisch: Yekîneyên Parastina Jinan.
9 Arabisch: Quwat as-Sanadid.
10 Zur Provinz ar-Raqqa gehörend.
11 Afri n und Kobani gehören zu der Provinz Aleppo.
12 Kurdisch: Partiya Yekitîya Demokrat.

Aus: Rojava – „Schutzzone“ für religiöse und ethnische Minderheiten, von Kamal Sido www.gfbv.de/fileadmin/redaktion/Reporte_Memoranden/2016/Nordsyrien_Reisebericht_compressed.pdf