Von Sarah Reinke

Es ist der 9. April dieses Jahres. Im Zentrum der tschetschenischen 20.000-Einwohner-Stadt Achtschoi-Martan liegt ein toter junger Mann. Schüler*innen, Studierende und Verwaltungsmitarbeiter*innen stehen um den Leichnam herum, eine Frau weint und versucht, mit einem Taschentuch ihre Tränen zu trocknen. Dies ist kein zufälliger Auflauf von Betroffenen und Neugierigen, sondern eine öffentliche Zurschaustellung. Die Menschen wurden an diesen zentralen Ort gebracht, um zu sehen, was politischen Gegnern droht.
Der Tote soll verschiedenen alternativen Medien und Oppositionellen zufolge Eskerkhan Khumashev heißen, 17 Jahre alt sein und aus Russland stammen. Er wird beschuldigt, mit einem Messer zwei Verkehrspolizisten angegriffen und einen von ihnen getötet zu haben. Noch am Tatort wird er erschossen, außerdem sein Vater von Sicherheitskräften aus Moskau nach Tschetschenien entführt und misshandelt. Auch entfernteren Verwandten wird gedroht.
„Jeder von ihnen muss verstehen, dass sie verantwortlich für die kriminellen Handlungen ihrer Verwandten gemacht werden“, betont Tschetscheniens Machthaber Ramzan Kadyrow später. Dieser aktuelle Fall zeigt beispielhaft, wie der Staat, der offiziell eine Republik ist, die eigene Macht durch Einschüchterung und Willkür zu sichern versucht.
Diese Strategie ist auch eine Folge der beiden Tschetschenien-Kriege (1994 bis 1996, 2000 bis 2009), die das politische System in der Kaukasus-Republik bis heute prägen und maßgeblich dazu beigetragen haben, dass und wie Russland in der Ukraine Krieg führt.
Völkermord mit 80.000 Toten
Im Jahr 2000 beginnt der zweite Tschetschenienkrieg. Der damals frisch gewählte Präsident Wladimir Putin nimmt Gewalt in Tschetscheniens Nachbarrepublik Dagestan und Anschläge auf Wohnhäuser in Russland im Sommer und Herbst 1999, die offenbar der russische Geheimdienst selbst ausgeführt hat, zum Anlass für einen neuerlichen Einmarsch in die kleine Republik im Nordkaukasus.
Dieser Krieg, offiziell als „Antiterroroperation“ deklariert, wird mit äußerster Brutalität gegen die Zivilbevölkerung geführt. Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) geht von rund 80.000 Toten aus und stuft die Vorgänge anhand zahlreicher Quellen als Völkermord ein.
Das System Kadyrow
Nach einer „heißen“ Phase des Krieges setzt die russische Führung auf die so genannte „Tschetschenisierung“, um die eigenen Interessen vor Ort durchzusetzen: Dazu werden russlandtreue Statthalter in Grosny eingesetzt. Der erste von ihnen ist Achmat Kadyrow. Nach dessen Tod durch ein Attentat am 9. Mai 2004 überträgt Putin per Erlass die Macht auf dessen Sohn Ramzan. Weil die tschetschenische Verfassung für das Präsidentenamt ein Mindestalter von 30 Jahren vorsieht, muss die offizielle Wahl noch bis 2007 warten.
Seitdem schreckt der Kriegsverbrecher Kadyrow vor kaum einer Gewalttat zurück: Er lässt reihenweise Gegner im In- und Ausland ermorden, legt selbst bei der Folter Hand an, baut mit den berüchtigten „Kadyrowzy“ eine eigene Armee auf und verfolgt Andersdenkende, Medienschaffende, Menschenrechtler*innen. Ein geschütztes Privatleben gibt es im heutigen Tschetschenien nicht. Das „System Kadyrow“ greift selbst tief bis in die intimsten Sphären von Glauben und Familie ein und sanktioniert Regelverstöße hart. Für Frauen gelten faktisch islamische Bekleidungsvorschriften, sie dürfen in der Öffentlichkeit beispielsweise keine Hosen tragen. Männer können, wie Kadyrow selbst, mehrere Frauen heiraten. Wer seinen muslimischen Glauben abweichend von seinen Regeln nach außen zeigt, läuft Gefahr, festgenommen zu werden.

Der lange Arm der Sippenhaft
Unzählige Male hat Kadyrow gewarnt, dass auch ins Ausland geflüchtete Tschetschen*innen vor seinem langen Arm nicht sicher seien. Und die Gefahr der Sippenhaft ist, wie schon der Fall des jungen Eskerkhan Khumashev zu Beginn des Artikels zeigt, real. Ein weiteres Beispiel hier ist Zarema Musajewa, die Mutter der beiden oppositionellen Blogger und Aktivisten Abubakar und Ibrahim Yangulbaev, die schon 2015 von „Kadyrowzy“ entführt, verhaftet und gefoltert werden, 2019 aber das Land verlassen können.
Am 20. Januar 2022 dringen tschetschenische Sicherheitskräfte in Musajewas Wohnung in Nizhnyj Novgorod ein und entführen sie in ein tschetschenisches Untersuchungsgefängnis. Ihre Heimat, die sechsgrößte Stadt Russlands, liegt fast 1.800 Autokilometer von Grosny entfernt. Später wird sie wegen der Androhung von Gewalt gegen einen Vertreter des Staats zu fünfeinhalb Jahren Haft verurteilt. Sie soll sich bei der Durchsuchung ihrer Wohnung gegen ihre Festnahme gewehrt haben.
Ein autokratisches Reallabor für Russland
Doch Kadyrows Arm nach Russland ist nur so lang, wie Putin es ihm zugesteht, und dessen Interessen in Tschetschenien gehen weit über die Kaukasusrepublik selbst hinaus. So werden viele Gesetzesverschärfungen der letzten Jahre explizit mit den Gefahren des Terrorismus begründet. Und der kommt in Russland typischerweise aus Tschetschenien.
Mit all seiner Willkür und den Rechtsbrüchen wird Kadyrows Regime außerdem zu einer Art autokratischem Reallabor für Putin. Menschenrechtsverletzungen und Gesetzesverschärfungen werden zunächst in Tschetschenien erprobt und lassen sich später auch in Russland beobachten. So gilt dort seit 2012 das „Ausländische Agenten Gesetz“, das sich gegen alle zivilgesellschaftlichen Organisationen richtet und Schritt für Schritt die Räume für zivilgesellschaftliches Handeln eingeschränkt hat. Mit dem Ergebnis, dass eine unabhängige Menschenrechtsarbeit heute kaum mehr und wenn, dann nur unter Inkaufnahme höchster persönlicher Risiken, möglich ist.
Memorial – ausgezeichnet und verboten
Auch dafür gibt es Vorbilder in Tschetschenien. Hier wird im Juli 2009 Natalija Estemirowa ermordet. Sie ist Mitarbeiterin der renommierten und 2022 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten Menschenrechstorganisation Memorial. Deren Büros werden mehrfach zerstört, Mitarbeiter*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen wie Ruslan Kutajew oder Ojub Titijew verhaftet und schikaniert.
Mittlerweile ist die Organisation auch in Russland verboten. Oleg Orlow, Memorial-Mitgründer und langjähriger Leiter des Programms „Hot Spots“, das die Menschenrechtsverbrechen in Tschetschenien dokumentiert hat, wird verhaftet und kommt nur dank eines Gefangenenaustauschs im Spätsommer 2024 wieder auf freien Fuß.
Der Tschetschenienkrieg als Vorbild für den Angriff auf die Ukraine
Selbst in der Kriegsführung ist Tschetschenien Vorbild. Zahlreiche Methoden, die im Kaukasus ausprobiert werden, lassen sich heute im oftmals viel größeren Ausmaß auch in der Ukraine beobachten. Dazu gehören die gezielte Bombardierung ziviler Ziele ebenso wie der systematische Einsatz von Folter gegen Gefangene. In Tschetschenien besteht während des Krieges ein System berüchtigter Filtrationslager. Ein Begriff, den die russische Armee nun in der Ukraine wieder einsetzt, um Gefängnisse und Lager zu beschreiben, in denen Folter angewendet wird. Das Muster ist immer gleich: Ein Statthalter Moskaus, der im jeweiligen Gebiet geboren ist, befehligt Einheimische, die ihre Landsleute verfolgen, verschleppen und ermorden. Das spaltet die betroffenen Gesellschaften und wiederholt ein altes Muster der Kolonialpolitik.
Eine genozidale Ausrichtung der Kriegsführung ist sowohl für Tschetschenien als auch für die Ukraine nachgewiesen. Der russische Menschenrechtler Oleg Orlow kommentiert die Entwicklung mit folgenden Worten, für die er später angeklagt wird: „Die finstersten Kräfte in meinem Land, jene, die von einer vollständigen Revanche für den Zerfall des sowjetischen Imperiums träumten, jene, die allmählich die Herrschaft über das Land übernommen haben, denen die konsequente Erstickung der Meinungsfreiheit, die Unterdrückung der Zivilgesellschaft, die faktische Liquidierung einer unabhängigen Rechtsprechung nicht genug waren, sie alle haben während der letzten Monate einen Sieg gefeiert.“
Eine Chimäre aus Feudalismus und Staatskapitalismus
Dieser Sieg ist keiner auf dem Schlachtfeld. Für das geht die NATO von rund 900.000 verletzten oder getöteten russischen Soldat*innen aus. Die Kriegstreiber um Präsident Putin lassen die eigene Bevölkerung also für überschaubare Geländegewinne jenseits der eigenen Grenzen bluten – aber feiern im Inneren derweil die totale Machtergreifung. Das Ziel ist längst keine Rückkehr zum kommunistischen System mehr, obwohl einige im Machtapparat sich selbst als Kommunisten bezeichnen.
Denn die heutige Elite Russlands profitiert vom chimärenhaften System, das sich in den letzten beiden Jahrzehnten entwickelt hat – halb Feudalismus, halb Staatskapitalismus und durchsetzt von Korruption. Jetzt scheint der Umbau des Landes vollendet. Die Beziehung zwischen Staat und Zivilgesellschaft im Inneren Russlands ist von Angst und willkürlicher Gewalt geprägt und die Außenpolitik von kriegerischer Aggression.