Von Salome Müller
Der Spatenstich für eine riesige Fracking-Anlage an der Nordküste Alaskas ist vollbracht: Das sogenannte Willow-Projekt hat alle politischen Hürden genommen. Doch die gegnerische und befürwortende Seite des Projekts streiten über dessen zukünftigen Auswirkungen. Auch die indigenen Gemeinschaften in Alaska bleiben angesichts der Ölförderung uneins.
„Erste große Winterbausaison in Alaska erfolgreich durchgeführt“, meldete ConocoPhillips im März 2024 auf seiner Website. Zwei Monate später schrieb der Ölkonzern: „Ankunft der Module der Betriebszentrale und Beginn der Herstellung der Zentralanlage früher als geplant“. Im Dezember des Vorjahrs hatte das Unternehmen mit Sitz in Texas seinen finalen Investitionsentscheid zugunsten des sogenannten „Willow-Projekts“ gefällt; nun sind die Bauarbeiten für das bisher größte Fracking-Unterfangen in Alaska angelaufen.
2017 hatte ConocoPhillips ein massives Ölvorkommen unter dem Willow-Schürfgebiet in der „National Petroleum Reserve Alaska“ (dt.: „Nationale Erdölreserve Alaskas“; NPR-A) entdeckt. Das Gebiet liegt im Norden Alaskas, ist rund 90.000 Quadratkilometer groß, sehr abgelegen und wird spärlich von Menschen bewohnt. Verschiedene Gemeinschaften der Iñupiaq – „Alaska Natives“ (dt.: „Indigene Völker Alaskas“) – leben in der Gegend. Die NPR-A ist Besitz der Bundesebene der Vereinigten Staaten (US).
2021 hatte US-Präsident Joe Biden ein Moratorium, also einen Aufschub, für neue Ölbohrungen auf Land in US-Besitz ausgesprochen. Sein Innenministerium hatte daraufhin Einschränkungen für zukünftige Ölbohrprojekte in der NPR-A beschlossen. Doch im März 2023 gab Biden ConocoPhillips grünes Licht für den Abbau der Willow-Reserven. Gruppen von Iñupiat und Umweltschützenden klagten gegen die Genehmigung und das Willow-Projekt landete vor dem Bundesgericht Alaskas. Dieses gab dem Projekt im vergangenen November statt. Das Urteil wurde damit begründet, dass sich das Projekt in der anerkannten NPR-A befinde und ConocoPhillips ausreichende abmildernde Umweltschutzmaßnahmen auferlegt worden seien. Umweltschützende legten gegen das Urteil Berufung ein. Diese ist noch hängig.
Wirtschaftlicher Stimulus für die lokale Bevölkerung
Der Abbau des Öls unter dem Willow-Schürfgebiet ist nur mit der Fracking-Methode möglich. Bei dieser werden tief unter der Erdoberfläche liegende Gesteinsschichten unter Hochdruck aufgebrochen: Durch ein Bohrloch wird ein Gemisch aus Wasser, Sand und Chemikalien in die Gesteinsschichten gepresst und das darin eingeschlossene Öl freigesetzt. Die Fracking-Anlage, welche ConocoPhillips zurzeit erstellt, wird die größte Ölunternehmung seit Jahrzehnten auf alaskischem Boden. Bei voller Kapazität soll sie die Produktion des Bundesstaats um mehr als ein Drittel erhöhen.
Außer bei Umweltschützenden und einigen lokalen indigenen Gruppen genießt das Willow-Projekt – und Fracking im Allgemeinen – in Alaska breite politische Unterstützung. Die beiden Senator*innen Alaskas sowie die einzige Abgeordnete für den Bundesstaat im US-Repräsentantenhaus, Mary Sattler Peltola, haben sich für die Anlage ausgesprochen. Peltola war 2022 die erste alaskische Politikerin mit indigenen Wurzeln, die in den Kongress gewählt wurde. Auch große Alaska-Natives-Verbände sprachen sich für das Projekt aus, etwa „Voice of the Arctic Iñupiat“ (dt.: „Stimme der arktischen Iñupiat“) oder „Inupiat Community of the Arctic Slope“ (dt.: „Iñupiat-Gemeinschaft der Arktischen Steilküste“).
Alle drei Kongressabgeordneten Alaskas lobbyierten aus wirtschaftlichen Gründen aktiv für die Bewilligung des Willow-Projekts. Der Bau der Anlage soll 2.500 Arbeitsplätze schaffen, bei ständigem Betrieb sollen es dann 300 sein. Bereits heute stammen fast 85 Prozent der staatlichen Einnahmen Alaskas aus der Ölförderung. Steuern und andere Abgaben aus dem Willow-Projekt sollen der öffentlichen Hand weitere Milliarden bringen. Indigene Befürworter*innen des Willow-Projekts hoffen, dass die Fracking-Einnahmen der Infrastruktur in abgelegenen Dörfern zugutekommen, beispielsweise lokalen Schulen und dem Wohnungsbau in der NPR-A. Der Vorsitzende von „Voice of the Arctic Iñupiat“ sagte, das Willow-Projekt gebe Hoffnung für eine gemeinsame Zukunft in Alaska.
Des Weiteren werben die Befürworter*innen damit, dass eine Erhöhung des US-Angebots an Öl die Energiepreise im Inland niedrig halten würde. Im März 2023 vertraten etwa die drei alaskischen Abgeordneten in einem gemeinsamen Meinungsbeitrag für den Nachrichtensender CNN diese Auffassung. Peltola begrüßte das Willow-Projekt auch angesichts der russischen Invasion in der Ukraine seit 2022. Es mache „uns alle sicherer in einer Welt, die unberechenbarer geworden ist“, sagte sie 2023 gegenüber der Onlineplattform Grist.
Indigene Lebensgrundlagen bleiben als Wrack zurück
Ein Hauptargument der lokalen Bevölkerung gegen das Willlow-Projekt ist jedoch die Umweltbelastung. Die NPR-A ist ein weitgehend unberührtes Wildnisgebiet. Es beherbergt Eisbären, Karibus (Rentiere), Zugvögel, Arktische Ringelrobben und Bartrobben. Auch die vor Ort lebenden Menschen werden die Auswirkungen der Fracking-Anlage spüren: Das indigene Dorf Nuiqsut wird beispielsweise komplett von Ölfeldern umgeben sein. Hier leben rund 500 Einwohner*innen, die meisten sind Alaska Natives. Naturverschmutzung – vor allem des Wassers – entzöge der lokalen Bevölkerung ihre wichtigsten Lebensgrundlagen zur Selbstversorgung: Fischfang und Jagd. Zudem sehen die Einheimischen in der Operation ein Gesundheitsrisiko. Sie fordern die Respektierung ihrer indigenen Rechte und beanstanden, dass ihre Vertretungen in politische Entscheidungsprozesse über ihr Land nicht genügend einbezogen würden.
Die juristischen Einsprachen gegen die Genehmigung des Willow-Projekts argumentierten, es würde zu erhöhtem Treibhausgasausstoß führen. Schätzungen nach wird das Projekt während seiner 30-jährigen Laufzeit rund 263 Millionen Tonnen Treibhausgase ausstoßen – dies entspricht etwa 40 Prozent des jährlichen Ausstoßes der Bundesrepublik Deutschland. Diese Emissionen tragen zum Klimawandel bei. Bereits heute ist die Arktis die sich am schnellsten erwärmende Region der Erde – mit gravierenden Folgen. Viele Tierarten des Nordens sind akut bedroht. Zum Beispiel stoßen Karibus auf ihren Wanderrouten auf neue Hindernisse: wo sie früher über Schnee und Eis zogen, sind heute Wassermassen. Die Schmelze des Permafrosts erhöht überdies die Gefahren, die mit dem Willow-Projekt einhergehen: aufgetaute Böden sind instabiler, was zu verheerenden Öl- und Gaslecks führen kann. Um dem zuvorzukommen, plant ConocoPhillips, den Boden unter seiner Fracking-Anlage während des Betriebs durch künstliche Kühlung gleich selbst wieder zuzufrieren.
Aufbruch in die Zukunft
Im April dieses Jahrs hat Biden die im März 2023 angekündigten Einschränkungen für zukünftige Ölbohrprojekte in anderen Teilen der NPR-A konkretisiert: 53.000 Quadratkilometer Land werden unter zusätzlichen Naturschutz gestellt. Diese Maßnahme soll dem Erhalt der Selbstversorgungsgrundlage der Alaska Natives dienen. Ebenso empfahl die Biden-Administration, ein geplantes Infrastrukturprojekt südlich der NPR-A abzulehnen. Dort soll eine 338 Kilometer lange Straße den Abbau und Abtransport Seltener Erden ermöglichen. Die neuen Regulationen haben jedoch keinen Einfluss auf bereits bestehende Förderprojekte in Alaska.
[Die Autorin]
Salome Müller ist Mitarbeiterin bei der Zeitschrift Für Vielfalt und studiert Weltliteratur an der Universität Göttingen.