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Ein flüssiger Schlüssel zur Herrschaft. Tibet, das Wasserschloss Asiens

Interview von Salome Müller an Penpa Tsering

Das Tibetische Hochland ist Quellgebiet der großen Flüsse Asiens und mit seinen vielen Gletschern einer der wichtigsten Wasserspeicher der Welt. Die chinesische Regierung hält dieses natürliche Vermögen mit eiserner Faust – auf Kosten anderer. Der Präsident der Tibetischen Exilregierung, Sikyong Penpa Tsering, erzählt, was dies für die Tibeter und die Bevölkerung der Nachbarländer bedeutet.

Das Tibetische Hochland könnte zu einem Brennpunkt der Biodiversität werden: eine Region mit reicher, nur auf das Gebiet beschränkter biologischer Vielfalt, die besonders bedroht ist. Foto: Tenace10/Wikipedia, BY-SA 4.0

Welches ist Ihrer Meinung nach das schönste oder beeindruckendste Gewässer Tibets?

Tibet beherbergt einige der größten Salz- und Süßwasserseen Asiens und wird auch als dessen Wasserschloss bezeichnet. Der größte See ist der Qinghai-See, den wir Mtsho-sngon-po nennen: der Blaue See. Ein sehr spiritueller See unter den vielen weiteren Gewässern ist der Lhamo Latso. Am Lhamo Latso werden Wahr- oder Weissagungen und auch Visionen zur Reinkarnation des buddhistischen Dalai Lama ersucht.

Welche Bedeutung hat das Element Wasser in der tibetischen Kultur?

Mir ist nicht bekannt, dass Wasser eine spezifische religiöse oder spirituelle Bedeutung hätte, wie etwa in Indien, wo es Wassergötter gibt. Aber natürlich ist Wasser sehr wichtig. Die Tibeter betreiben beispielsweise keinen Fischfang, da sie keinen Fisch essen – zumindest in Tibet. Bei Menschen im Exil hat sich das heutzutage möglicherweise etwas geändert.
Für uns Tibeter hat Wasser eine so große Bedeutung, dass wir sicherstellen wollen, dass das Wasser, das Tibet verlässt, im nächsten Land trinkbar ist. Denn es fließt in Form wichtiger Ströme in andere Länder: etwa als Karnali-Fluss durch Nepal, als Indus-Fluss durch Indien und Pakistan oder als Mekong-Fluss durch südostasiatische Länder. Wohin es auch gelangt, ob nach China oder in die südostasiatischen Länder Laos, Kambodscha, Thailand, Vietnam, Indien oder Bangladesch, das Wasser soll sauber sein.

Unter den großen, für China sehr wichtigen Flüssen, die im Tibetischen Hochland entspringen, ist der Drichu-Fluss. Aktuell fährt China eine Baukampagne für Dämme und Elektrizitätswerke entlang dieses Flusses. Was bezweckt China mit den mehr als ein Dutzend geplanten Bauprojekten?

Der Drichu, der in China Jangtse genannt wird, und der Gelbe Fluss sind die Lebensadern Chinas. Ohne diese beiden Flüsse, die in Tibet entspringen, kann China seine 1,4 Milliarden Menschen nicht ernähren. China baut also an jedem Fluss Dämme, um das Wasser zu kontrollieren. Es ist ein sehr kostbares Gut. Manche sagen, der dritte Weltkrieg könnte aufgrund des Wassers entbrennen. In diesem Fall wäre Tibet einer der entscheidenden Brennpunkte der Biodiversität.
Ein Staudamm, den die chinesische Regierung in Derge baut, machte [im Frühjahr 2024; Anm. d. Red.] international Schlagzeilen. Denn in den sozialen Medien gab es Berichte über Tibeter, die die Chinesen auf Knien darum baten, von diesem Damm abzusehen. Er ist nur einer von 13 Dämmen, die sie am Oberlauf des Drichu-Flusses planen. Die Wasserkraftwerke sollen Strom aus den westlichen Regionen in die östlichen Regionen Chinas liefern, die stärker industrialisiert sind und daher mehr Energie benötigen. Die westlichen Regionen sind nicht so stark entwickelt wie der Osten. Tibet gehört zu den sogenannten westlichen Regionen, in denen es für China wichtig ist, voranzukommen.

Welche Auswirkung hat der Bau solcher Dämme auf die lokale Bevölkerung in Tibet?

Viel Land wird überschwemmt, was die für diese Region typische Flora und Fauna auslöscht. Tibet ist das Dach der Welt: Natürlich wird dies auch Auswirkungen auf die flussabwärts gelegenen Gebiete haben, einschließlich innerhalb Chinas. 1998 gab es am Jangtse riesige Überschwemmungen, die viele Häuser und Menschenleben zerstört haben. Wir dachten, China hätte seine Lektion gelernt, aber dem scheint nicht so zu sein.
Die Chinesen wissen auch, dass die gesamte Region ein Erdbebengebiet ist. Was passiert mit den Menschen flussabwärts, wenn einem Damm dieser Größe etwas zustößt? Auch am Brahmaputra-Fluss planen sie einen sehr großen Damm. Er soll an einer Stelle gebaut werden, die „Great Bend“ (dt.: „große Kurve“) genannt wird. Dort macht der Brahmaputra eine Kehrtwendung, um nach Indien zu gelangen. Dieser geplante Damm in Westtibet soll mehr als doppelt so groß werden wie der „Three Gorges Dam“ [„Drei-Schluchten-Talsperre“ am Jangtse in China, derzeit das größte Wasserkraftwerk der Welt; Anm. d. Red.]. Für die flussabwärts gelegenen Länder könnte ein derart gigantischer Damm sehr, sehr zerstörerisch sein.

Ist es der tibetischen Bevölkerung unter dem Joch des chinesischen Sicherheitsapparats möglich, sich gegen solche Staudammprojekte auszusprechen?

Wenn eure Häuser unter Wasser stehen, wenn eure Klöster unter Wasser stehen und eure gesamte Lebensgrundlage auf dem Spiel steht, dann habt ihr keine andere Wahl, als zu protestieren. Doch dafür ist kein Raum: Unmittelbar nach den Protesten [vom Frühjahr 2024; Anm. d. Red.] hat die chinesische Regierung herausgefunden, wer Bilder davon in den sozialen Medien verbreitet hatte. Die chinesische Regierung ist sehr wachsam. Sie weiß, dass die internationale Gemeinschaft Beweise braucht und will deshalb mit allen Mitteln dafür sorgen, dass diese nicht aus Tibet herauskommen. So behält sie die Kontrolle.

Wie konnte es dennoch zu Demonstrationen kommen?

Ich denke, dass es auch im restlichen China viele Proteste gibt. Die Frage ist jedoch, ob es die internationale Gemeinschaft mitbekommt. Die Kontrolle durch China ist so streng, dass keine Belege zu westlichen Medien durchsickern können: Wer auch nur ein Foto vom Innern Tibets rausschickt, riskiert seine Freiheit und sein Leben. Um Absender zu finden, suchen die Sicherheitsbehörden nicht nur in der Region, sondern sogar in den umliegenden Regionen. Journalisten und Diplomaten ist es nicht erlaubt, sich vor Ort selbst ein Bild zu machen.

Wenn tibetische Dörfer zugunsten einer Staudamm-Flutung umgesiedelt werden, ist oft unklar, ob ihre Bewohner im Gegenzug ein Gebiet erhalten, auf dem sie ihren Lebensunterhalt bestreiten können. Foto: Tenace10/Wikipedia, BY-SA 4.0

Was bedeutet dies in Zukunft in Bezug auf die Meinungsfreiheit?

Solange die chinesische Regierung ihre Politik nicht ändert, wird sich meiner Meinung nach daran nichts ändern. Die ganze Welt entwickelt sich in Richtung Multikulturalismus, nur die Volksrepublik China, die Programme ihres Präsidenten Xi Jinping, sind auf dem Weg Richtung Unikulturalismus. Dieser geht auf Kosten der Identität aller Nationalitäten – einschließlich der der Tibeter, Uiguren und Mongolen. Wir sind im 21. Jahrhundert und doch haben wir noch Länder wie China, die sehr undurchsichtig agieren und sich dem uneingeschränkten Blick von außen versperren. Ständig verkündet die chinesische Regierung, dass Tibet ein sozialistisches Paradies sei. Warum erlaubt sie es Menschen von außerhalb dann nicht, dieses Paradies in Augenschein zu nehmen?
Aber wir sind Buddhisten. Wir glauben, dass nichts für immer ist. Die westliche Psychologie sagt auch: Der Wandel ist die einzige Konstante. Hier in Deutschland haben Sie den Fall der Berliner Mauer erlebt: Wandel muss kommen. Und der Weg, den Xi Jinping beschreitet, beschleunigt diesen Wandel nur.

Tibet ist – wie Sie eingangs bereits erwähnten – ein Wasserschloss. Ein Fünftel des weltweiten Süßwasservorkommens stammt aus der Himalaya-Region. Profitieren die Tibeter finanziell vom großen Wasservorkommen in ihrer Heimat?

Ganz und gar nicht. Man sieht jetzt, dass die lokalen Regierungen bankrott und auf Investitionen angewiesen sind, um Einnahmen zu erzielen. Aber die lokale Bevölkerung hat nichts von diesen Dämmen und anderen Projekten. Es sind nur die Unternehmen und Geschäftsleute, die damit Geld verdienen. Eine Botschaft an die europäischen Länder lautet deshalb: Wer für die Wasserkraft Turbinen liefert, sollte keine Projekte mehr in Tibet unterstützen.

Die tibetische Region wird auch „Dritter Pol” genannt und verfügt über viele Gletscher. Was bedeutet der Klimawandel für Tibet und seine Bevölkerung?

Es geht nicht nur um das tibetische Volk. Auswirkungen des Klimawandels wie das Schmelzen der Gletscher betreffen die ganze Region und die ganze Welt. Ich habe einen Bericht über die Wechselbeziehung zwischen Tibet – dem Dach der Welt – und Amazonien – der Lunge der Welt – gelesen. Niemand käme auf die Idee, dass sich die beiden gegenseitig beeinflussen könnten. Doch wissenschaftlichen Studien, die Klimaveränderungen über die Jahrhunderte hinweg untersuchten, zeigen: Wenn es in Amazonien mehr regnet, gibt es in Tibet weniger Schnee; wenn es in Tibet mehr Schnee gibt, gibt es in Amazonien weniger Regen. Was in einem Teil der Welt passiert, kann also Auswirkungen auf einen anderen Teil der Welt haben.
Manche sagen, dass von den 8 Milliarden Menschen weltweit 1,8 Milliarden Menschen in irgendeiner Weise mit Flüssen zu tun haben, die in Tibet entspringen. Darüber hinaus gibt es noch die Jetstreams, die über das Tibetische Hochland ziehen [Ein Jetstream oder Strahlstrom ist ein schneller, bandförmiger Starkwind. Er entsteht aufgrund der globalen Luftdruckausgleichsbewegungen zwischen verschiedenen Temperaturregionen und Hoch- und Tiefdruckgebieten; Anm. d. Red.]. Die Jetstreams bestimmen, welche Gebiete in Indien und anderen Ländern heiß sein werden und wo es regnen wird. Die klimatischen Bedingungen in Tibet haben also einen großen Einfluss auf die gesamte Region. Aber leider sind die Nachbarländer nicht in der Lage, sich in diesen Belangen zu Wort zu melden. Auch die Tibeter können nicht mitreden: Wer protestiert wird verhaftet.

Ist die Region bereits von Trockenheit und Dürre betroffen oder von Überschwemmungen?

Die Problematiken betreffen eher die flussabwärts gelegenen Länder. China sitzt am Wasserhahn für das tibetische Wasser. Wenn es mehr Wasser gibt, lassen sie es abfließen und es kommt zu Überschwemmungen in den flussabwärts gelegenen Ländern. Wenn es weniger Wasser gibt, weniger Niederschlag, dann wird der Hahn zugedreht und in den flussabwärts gelegenen Ländern herrscht Dürre. Wasser wird von China als Waffe eingesetzt.

Aber auch Chinas Norden hat zunehmend mit Wasserknappheit zu kämpfen. Welche Strategien würde Ihre Regierung hier bereithalten, um das Problem zu lösen, könnte sie mit den lokalen Regierungen darüber verhandeln?

Es gibt keinen Raum für Verhandlungen. Wir können der chinesischen Regierung nicht vorschreiben, dies oder jenes zu tun. Das Einzige, was wir tun können, ist, uns an die internationale Gemeinschaft zu wenden und zu sagen: China befindet sich auf dem Tibetischen Hochland und beeinträchtigt die klimatischen Wasserressourcen in der Region. Wir haben es hier mit ernsthaften Problemen für die Nahrungsmittel- und Wassersicherheit der Zukunft zu tun. Wenn China das gesamte Wasser kontrolliert, können wir gleich vergessen, dass es das Wasser mit anderen teilt – China gibt nicht einmal hydrologische Daten an die flussabwärts gelegenen Länder weiter.

Als wie groß schätzen Sie die Wahrscheinlichkeit ein, dass Länder, die sich flussabwärts befinden, gegen Chinas Wassernutzungsintensität aufbegehren? Könnte es zu diplomatischen oder sogar bewaffneten Konflikten kommen?

Gegenwärtig ist davon nichts zu sehen. Wir hören nur Berichte darüber, wie sich die Kontrolle Chinas über das Wasser in Tibet auf die Existenzgrundlagen der Menschen auswirkt. Diese Menschen können sich nicht gegen die chinesische Regierung aussprechen, weil sie wirtschaftlich von China und seinem Einfluss in den flussabwärts gelegenen Ländern abhängig sind. Wir werden sehen, was passiert, wenn ihre Lage zu unerträglich wird und es für sie keine andere Wahl mehr gibt, als ihre Stimme zu erheben. Bis zu diesem Zeitpunkt ist es für die flussabwärts gelegenen Länder, einschließlich Indien, aufgrund der wirtschaftlichen Abhängigkeit schwierig, allzu sehr gegen China vorzugehen.

Inwiefern ist der sino-tibetische Konflikt auch ein Konflikt um Ressourcennutzung respektive deren Besitz?

Im chinesisch-tibetischen Konflikt gibt es viele Vertreibungen wegen der Stauung von Flüssen und der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen Tibets. Diese Aktivitäten führen zu sozialen Problemen, denn die umgesiedelten Tibeter verlieren ihre traditionelle Lebensweise. Auch werden den Vertriebenen keine neuen Fähigkeiten beigebracht, mit denen sie am neuen Wohnort ihren Lebensunterhalt angemessen bestreiten könnten. Die Menschen werden in andere Erwerbstätigkeiten gezwungen, etwa in die Prostitution.

Welche weiteren natürlichen Ressourcen sind in diesem Kontext wichtig?

Vor wenigen Monaten erst war die Rede von einem Goldminenfund in der Region Qinghai, wie China sie nennt. Daneben verfügt Tibet über große Reserven an Lithium, Kupfer, Uran und weiteren Rohstoffen, aber ich bin kein Experte für Mineralien und Gesteine. Als China in Tibet einmarschierte, war Tibet ein unberührtes Land. Es war unerschlossen, denn wir hatten davor nie Bergbau betrieben. Wenn China also in Lateinamerika und Afrika nach Bodenschätzen suchen kann, um die Fabriken der Welt zu versorgen, warum nicht auch in Tibet? Früher war dies logistisch schwierig, denn das Gebiet ist sehr gebirgig. Doch mittlerweile haben die Chinesen Straßen, Eisenbahnen und Flughäfen gebaut. Jetzt ist es für sie viel einfacher, natürliche Ressourcen aus Tibet zu gewinnen und nach China zu schaffen. Es heißt immer: „Oh, die Tibeter reden nicht darüber, wie viel Entwicklung stattgefunden hat.“ Dabei dient diese Entwicklung nicht den Tibetern: Sie ist für die Chinesen gedacht, um den Tibetern ihre Ressourcen wegzunehmen.

Penpa Tsering wurde 2021 von den Tibetern im Exil demokratisch zu ihrem Präsidenten gewählt. In seiner Funktion als Sikyong ist er der Vorsitzende des Ministerrats (Kashag) der Tibetischen Exilregierung (Central Tibetan Administration) mit Sitz im indischen Dharamshala. Die Amtszeit des Sikyong und des siebenköpfigen Kashags beträgt fünf Jahre. Das Amt des Sikyong als politischer Führer der Exiltibeter wurde geschaffen, als der 14. Dalai Lama 2011 diese Rolle an ihn abgab. Seither ist der Dalai Lama nur noch das geistliche Oberhaupt im tibetischen Buddhismus.
Penpa Tsering wurde 1967 im südindischen Bylakuppe geboren. Er besuchte die Central School for Tibetans im gleichen Ort und studierte am Madras Christian College in Chennai Wirtschaft. Anschließend setzte er sich mit verschiedenen politischen Tätigkeiten für die Rechte des tibetischen Volks und den Schutz der tibetischen Kultur ein. Vor seiner Wahl zum Sikyong 2021 war er unter anderem vier aufeinanderfolgende Wahlperioden lang Mitglied des tibetischen Exilparlaments, davon zwei als Sprecher.

[Info]
Salome Müller führte das Interview mit Sikyong Penpa Tsering am 6. Mai 2024 in Berlin bei einem Treffen des Sikyongs mit Vertretern der Menschenrechtsorganisation Gesellschaft für bedrohte Völker. Anschließend übersetzte sie es aus dem Englischen ins Deutsche. Dabei wurde es sprachlich leicht angepasst und gekürzt.