Von Anton Eickel, Paula Fischer, Holger Isermann, Jan Königshausen, Laura Mahler

Häufig sind Infrastrukturen aus Sicht von Indigenen Völkern oder Minderheiten vor allem eine Bedrohung. Das liegt in der Regel weniger am Fortschritt selbst, als vielmehr an den Zielen der Bau- oder Infrastrukturprojekte. Eine Zugstrecke kann also durchaus eine Errungenschaft sein, aber eben nicht losgelöst davon, wo sie gebaut wird und welche Interessen die handelnden Akteur*innen bei Planung und Umsetzung beachten oder mit Füßen treten. Dass Gemeinschaften von Bauprojekten und Technologien explizit profitieren können, zeigt die folgende Auswahl an Beispielen – die Mobilität, Resilienz, Kultur, Energie und Nahrung schaffen oder erhalten helfen.

Elektromobilität auf dem Land: Ein Pilotprojekt in La Guajira
Eine Karawane mit Symbolcharakter startete im September 2024 ein Pilotprojekt im kolumbianischen La Guajira. Ziel: die Umrüstung benzinbetriebener Motorräder auf Elektroantrieb – angepasst an die Bedingungen in einer Region, die oft von staatlicher Infrastruktur abgeschnitten ist. La Guajira ist zudem Heimat der indigenen Wayúu, die seit langem für mehr Selbstbestimmung und Zugang zu grundlegender Versorgung kämpfen.
Die Initiative wurde von Polen Transiciones Justas, der Universität von La Guajira und Eolo Motors entwickelt. Eine gemeinschaftlich betriebene Solartankstelle versorgt die EMotorräder, sechs lokale Personen wurden geschult – mit Fokus auf Geschlechter- und Generationengerechtigkeit. Das Projekt setzt dabei bewusst auf lokale Kapazitäten, um eine gerechte Energiewende von unten zu ermöglichen.
Eingesetzt werden sie für den Personentransport, zur Beförderung landwirtschaftlicher Erzeugnisse und im Tourismus – mit bis zu 160 Kilometern Reichweite pro Ladung. Trotz Herausforderungen wie hoher Umstellungskosten und lückenhafter Ladeinfrastruktur überwiegen die Vorteile: geringere Betriebskosten, weniger Emissionen und lokale Teilhabe.
Das Projekt zeigt: Eine gerechte Energiewende auf dem Land ist möglich – wenn sie lokal verankert ist und politisch unterstützt wird. Die Heinrich-Böll-Stiftung, die das Projekt gefördert hat, möchte nun dafür sorgen, dass die Erfahrungen in die nationale Energiepolitik einfließen – mit dem Ziel, ähnliche Ansätze in weiteren ländlichen Regionen umzusetzen.
FirstVoices zum Spracherhalt in Kanada
Sprache bewahrt Kultur und Identität, geht sie verloren, verlieren Gemeinschaften einen Teil ihrer Geschichte. In Kanada sind die Sprachen vieler First Nations bedroht, da Kindern im Internatssystem des 20. Jahrhunderts das Sprechen ihrer Muttersprache verboten wurde. Um dieses Erbe zu retten, entstand 2003 FirstVoices: eine digitale Plattform, die mit Audio, Bildern, Apps, Tastaturen und Spielen das Lernen unterstützt. Heute sind dort bereits 85 indigene Sprachen dokumentiert, 33 davon allein aus British Columbia.
Neue Infrastruktur für ethnische Minderheiten an der Küste Vietnams
Derzeit entsteht in den vietnamesischen Regionen Binh Dinh und Quang Nam Infrastruktur, die Menschen widerstandsfähiger gegen den Klimawandel machen soll. Das „Climate Resilient Inclusive Infrastructure for Ethnic Minorities Project I“ verbessert Straßen, baut klimaresistente Wasserversorgung auf und erleichtert den Zugang zu Wetter- und Klimadaten. Besonders profitieren sollen ethnische Minderheiten, die hier fast die Hälfte der Bevölkerung ausmachen und deren Dörfer in der Regenzeit oft von urbanen Zentren abgeschnitten sind.
Beteiligung der Māori an Projekten im Straßenverkehr
Auf Augenhöhe und zum Nutzen aller – In Aotearoa (Neuseeland) arbeitet die Transportbehörde Waka Kotahi eng mit Māori-Gemeinschaften zusammen. Geplant sind unter anderem zweisprachige Straßenschilder, um die Māori-Sprache zu stärken. Zudem sollen Programme die Verkehrssicherheit verbessern, da Māori überproportional von Unfällen betroffen sind. Durch die enge Zusammenarbeit mit lokalen Gruppen wird sichergestellt, dass ihre Perspektiven und Interessen in allen Projekten berücksichtigt werden.
Verbesserte Wasserversorgung eines Reservates in den USA
Im San Carlos Apache Reservat in Arizona wächst eine Bewegung, die Tradition und Zukunft verbindet: Die Nalwoodi Denzhone Community hilft den Menschen, alte Nutzpflanzen wieder anzubauen und so Nahrungsunsicherheit zu verringern. Gemeinsam mit Engineers Without Borders USA und der Universität Arizona verbessern sie die Wasserversorgung für die Landwirtschaft durch Brunnen und Bewässerungssysteme und wollen jüngeren Generationen traditionelle Pflanzen näherbringen. Dies soll der Erhaltung der Kultur sowie dem Zugang zu gesünderen Lebensmitteln dienen.

Indigenes Wissen für Wettervorhersagen in Tansania
In Lushoto, Tansania verbinden Kleinbauern traditionelles Wissen mit wissenschaftlichen Wettervorhersagen, um ihre Landwirtschaft besser zu planen. Naturzeichen, wie das Verhalten von Vögeln, Pflanzen oder Tieren werden mit Hilfe von Forschenden des CGIAR Research Program on Climate Change, Agriculture and Food Security dokumentiert und mit meteorologischen Daten kombiniert. So entstehen verlässlichere Prognosen, die Bauern helfen sollen, sich auf Regenzeiten und extreme Wetterereignisse einzustellen und ihre Ernten zu sichern. Dabei soll ein Netzwerk entstehen, in dem Bauern ihr Wissen miteinander teilen können.
Solarnetzwerk im Nordosten des Kongo
Dank Nuru entstand gemeinsam mit kongolesischen Mitarbeitenden das erste kommerzielle Solar-Minigrid der Provinz Nord-Kivu in der Stadt Beni. Heute versorgt das Unternehmen auch die konfliktreiche Region Goma mit Strom, der günstiger und zuverlässiger ist als jener aus traditionellen Dieselgeneratoren. Die neuen Straßenlaternen geben Sicherheit, Wasserpumpen und sogar ein kleines Kino profitieren. Auch während Angriffe der Rebellengruppe M23 im Januar Netze lahmlegten, blieb Nuru stabil. Ihr Ziel für die Zukunft ist es das Netz auszubauen, um bis Ende 2030 zehn Millionen Menschen im Kongo mit ihrem Strom zu erreichen.
Schutz von indigenen Territorien durch GPS-Daten
Gemeinsam mit der Partnerorganisation Upper Amazon Conservancy (UAC) aus Peru verfolgt die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) das Ziel, die Gebiete der Amahuaca-Gemeinschaft „Santa Rosa“, der Ashéninka-Gemeinschaft „Nueva Victoria“ und der Yaminahua-Gemeinschaft „El Dorado“ zu stärken, indem die GPS-Koordinaten ihrer Territorien erfasst und offiziell anerkannt werden.
Der Hintergrund für dieses Projekt ist ein Vorfall aus August 2021, als zwei Traktoren der Holzfirma „Forestal Mendoza EIRL“ unerlaubt in das Gebiet der Ashéninka aus dem Fluss Amonia eingedrungen sind. Die Holzfirma versucht seitdem illegal, eine Straße von Nueva Italia zur Ortschaft Puerto Breu zu bauen. Dabei wird durch sie und die mit ihr kooperierende organisierte Kriminalität Druck auf die Gemeinschaften ausgeübt, während Flüsse, Wasserquellen, Wälder und die indigenen Siedlungsgebiete geschädigt werden.
Da die betroffenen indigenen Gemeinschaften ihre Territorien bislang nicht mittels GPS-Koordinaten genau definieren können, sind sie nicht in der Lage, die Rechtswidrigkeit solcher Eingriffe nachzuweisen. Mit Unterstützung der Hering-Stiftung Natur und Mensch konnten die Upper Amazon Conservancy (UAC) und die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) im Jahr 2024 bereits offizielle Landkarten mit den GPS-Koordinaten für die Asháninka-Gemeinschaften Sawawo und Dulce Gloria erstellen. Bisher wurden so bereits fast 55.000 Hektar Regenwald geschützt.
Ziegen als natürliche Feuerwehr in Santa Juana, Chile
In Santa Juana wird seit einigen Jahren eine besondere Methode zur Brandprävention eingesetzt: Strategisches Ziegen- und Schafbeweiden. Die Tiere fressen trockenes Unterholz und entfernen damit tote Biomasse, die sonst als Brandbeschleuniger wirkt, und schaffen so gleichzeitig natürliche Brandschutzstreifen. Das Projekt Buena Cabra (die gute Ziege) zeigt, wie Tiere nicht nur in der Landwirtschaft, sondern auch im Umweltschutz eine entscheidende Rolle spielen können.
Die Initiative begann 2016 mit dem Schutz eines kleinen Waldbestands, der 2017 fast einem Feuer zum Opfer gefallen wäre. Aus dieser Erfahrung entstand die Idee, Ziegen gezielt einzusetzen, um Katastrophen zu verhindern. Spätestens bei den Mega-Bränden von 2023, die große Teile Zentralchiles betrafen, wurde die Wirksamkeit des Ansatzes eindrucksvoll bestätigt, als 150 Ziegen halfen, das Feuer aufzuhalten. Initiiert und geleitet wird Buena Cabra von der Biologin Rocío Cruces und dem Forstingenieur Víctor Faúndez, ein Ehepaar aus Zentralchile. Mittlerweile arbeiten sie mit Gemeinden, Universitäten und internationalen Projekten zusammen.
Buena Cabra versteht sich nicht nur als Brandschutzprojekt, sondern als Bewegung für nachhaltiges Leben. Ziel ist es, Natur und Menschen in Einklang zu bringen, durch Bildung, gemeinschaftliche Prävention und ökologische Praxis. Neben der Reduzierung von Brandgefahr verbessern die Tiere die Bodenqualität, binden CO2 und schaffen neue Chancen für die lokale Bevölkerung – von Milchprodukten bis hin zu Ökotourismus. So wird die strategische Beweidung zu einem Werkzeug für eine hoffnungsvolle und widerstandsfähige Zukunft.

Junge Mexikanerin integriert Náhuatl in Google Translate
Der Erfolg der jungen Mexikanerin Gabriela Salas, Ingenieurin für Informationstechnologien, sorgte im Sommer 2024 für Aufmerksamkeit: Dank ihrer Initiative und ihres umfassenden Datensatzes konnte die indigene Sprache Náhuatl in Google Translate integriert werden. Über die persönliche Leistung hinaus hat dieser Schritt eine weitreichende Bedeutung.
Mit der Aufnahme einer indigenen Sprache in eine globale Plattform wie Google Translate wird nicht nur die Reichweite des Náhuatl vergrößert, sondern auch ein Signal gegen das Verschwinden marginalisierter Sprachen gesetzt. Indigene Kulturen erhalten so mehr Sichtbarkeit im digitalen Raum und der Zugang zu ihrer Sprache wird für ein weltweites Publikum erleichtert. Für Sprecher:innen bedeutet dies beispielsweise, dass sie Nachrichten und Dokumente mit anderen Menschen teilen können, welche die eigene Sprache nicht sprechen. Der Austausch in sozialen Netzwerken oder mit Behörden könnte so vereinfacht werden.
Náhuatl wird seit Jahrhunderten in Zentralmexiko gesprochen. Es war die Sprache des Aztekenreichs und prägt bis heute das Spanische mit zahlreichen Lehnwörtern wie chocolate (Náhuatl: xocolātl) oder tomate (Náhuatl: tomatl). Trotz dieser tiefen kulturellen Spuren und ihrer 1,7 Millionen Sprecher:innen ist die verbreitetste indigene Sprache Nordamerikas vor allem in ländlichen Regionen Mexikos gefährdet. Gründe hierfür sind unter anderem die Verdrängung durch Spanisch sowie die anhaltende Stigmatisierung indigener Sprachen.
Mullu TV – Eine kostenlose Streaming-Plattform für Stimmen kultureller Souveränität
Mullu TV ist ein interkulturelles Kollektiv aus Filmschaffenden, Journalist:innen und Aktivist:innen, das 2022 gegründet wurde. Inspiriert von der heiligen Spondylus-Muschel – einst Symbol für Austausch und Allianzen unter den Völkern des amerikanischen Kontinents – versteht sich Mullu als Ort für audiovisuelle Souveränität, an dem Gemeinschaften die Kontrolle über ihre eigene digitale Darstellung im digitalen Raum zurückgewinnen.
Das Projekt stärkt die Stimmen indigener und afro-abstammender Gemeinschaften, erzählt ihre Geschichten filmisch und macht so ihre Kämpfe wie auch ihre kulturellen Ausdrucksformen erfahrbar. Dabei geht es nicht nur um die Bewahrung von Erinnerung, sondern auch um die Entwicklung neuer, selbstbestimmter Erzählweisen, die der Vielfalt der Kosmovisionen gerecht werden. Für die Zuschauer:innen bedeutet dies, dass sie Einblicke in bislang wenig sichtbare Lebensrealitäten erhalten und ein tieferes Verständnis für kulturelle Vielfalt und soziale Zusammenhänge entwickeln können.
Unter anderem zu sehen sind die Dokumentation Energía de los pueblos, die zeigt, wie Gemeinden in Mexiko und Guatemala eigene nachhaltige Energieprojekte entwickeln, um sich gegen Megaprojekte und den Raub ihrer natürlichen Ressourcen zu wehren, sowie der Spielfilm Manco Capac aus Peru, in dem Elisban in Puno ums Überleben kämpft und nach einem besseren Lebensweg sucht.
Als gemeinnütziger, digitaler Kanal, der allen kostenfrei zugänglich ist, lebt Mullu TV von kollektiven Beiträgen, Spenden und solidarischer Unterstützung, ohne dabei seine redaktionelle Unabhängigkeit aufzugeben. Neben der Distribution von Filmen fördert die Plattform auch Ausbildung und Austausch, etwa durch ihre Filmschule, die jungen Filmschaffenden aus indigenen und afro-Kontexten neue Möglichkeiten eröffnet.
So wird Mullu TV zu einer Plattform, die Widerstand, kulturelle Selbstbestimmung und Vielfalt in Bilder übersetzt – und damit anstrebt, Allianzen zwischen Netzwerken und Interessierten zu schaffen, die weit über den Bildschirm hinausreichen.
Die Chelemeras: Maya-Frauen retten Mangroven in Yucatán, Mexiko
An der Küste der Yucatán-Halbinsel bei Chelem haben seit 2010 vierzehn Maya-Frauen, bekannt als die Chelemeras, einen beeindruckenden Wiederaufforstungserfolg erzielt. Durch das Graben von Kanälen und gezielte Aufforstung konnten sie den natürlichen Wasserdurchfluss, welcher durch andere Infrastrukturprojekte zerstört worden war, wiederherstellen und so über 50 Hektar Mangroven regenerieren.
Die Frauen im Alter zwischen etwa 33 und 82 Jahren nutzten handgefertigte Methoden wie Tarquinas (ein Netz in Holzrahmen) zur Anzucht von Mangrovenpflanzen und schufen eigene Werkzeuge wie den Jamo, eine effiziente Alternative zur Schaufel. Bildung spielte auch eine große Rolle, denn die Chelemeras eigneten sich über die Jahre hinweg das nötige Wissen an, um die Ursachen des Austrocknens der Mangroven gezielter anzugehen. Dadurch wissen sie heute genau, welche der ursprünglichen Mangrovenarten an welchem Standort angepflanzt werden muss, damit sie perfekt wachsen können.
Mangroven spielen eine zentrale Rolle beim Klimaschutz, da sie große Mengen CO2 speichern und Küsten vor Sturmfluten und Erosion schützen. Gleichzeitig sind sie Hotspots der Biodiversität, bieten Lebensraum für zahlreiche Tier und Pflanzenarten und tragen so zur Erhaltung ökologischer Vielfalt bei. Somit sichert der Erhalt der Mangroven auch die Lebensgrundlagen der lokalen indigenen Bevölkerung durch Fischerei, sauberes Wasser und nachhaltige Einkommensquellen.