Von Tessa Hofmann

Während die politische und kulturelle Geschichte Mittel- und Westeuropas durch eine frühe Trennung von weltlicher und kirchlicher Macht geprägt wurde, verlief das Verhältnis beider Kräfte in Armenien umgekehrt. Aufgrund der missionarischen Tätigkeit der beiden Apostel Thaddeus Lebbaeus und Bartholomäus im Armenischen Hochland darf sich die armenische Kirche gleichberechtigt zur römisch-katholischen Kirche als apostolisch bezeichnen.
In den langen Jahrhunderten der Fremdherrschaft war es die armenisch-apostolische Kirche, die in Armenien und seiner Diaspora Zusammenhalt und Identität stiftete, sowie einen Ersatz für die fehlende Eigenstaatlichkeit darstellte. In Würdigung dieser historischen Leistungen verlieh ihr das postsowjetische Armenien eine herausgehobene Stellung als „Nationalkirche“ (Art. 18, Abs. 1 der Verfassung).
Bei gleichzeitiger Garantie der Religionsfreiheit erkennt die Republik Armenien „die außergewöhnliche Mission der Armenisch-Apostolischen Heiligen Kirche als nationale Kirche im spirituellen Leben des armenischen Volkes, in der Entwicklung seiner nationalen Kultur und in der Bewahrung seiner nationalen Identität“ an.
Unter der Regierung von Nikol Paschinjan kam es seit 2018 zunehmend zu Konflikten zwischen der politischen und der geistlichen Führung. Bereits 2021 hatte Paschinjans Regierung eine Verfassungsreform angedeutet, um der Kirche ihren privilegierten Status zu entziehen.
Die Kirche als Opposition
Seit Paschinjans „Samtener Revolution“ von 2018 ist Katholikos Garegin II. (mit bürgerlichem Namen: Ktridsch Nersisjan) ein lautstarker Kritiker der Regierung Paschinjan. Garegins offene Unterstützung für die Freilassung des ehemaligen Präsidenten Robert Kotscharjan Anfang 2020 und seine Ablehnung von Paschinjans allzu nachgiebigen Friedensbemühungen nach dem für Armenier verlustreichen Zweiten Karabachkrieg (2020) haben dies nur noch unterstrichen.
In Paschinjans Augen verkörpert der Katholikos keine spirituelle Autorität mehr, wenn er dies überhaupt jemals getan hat, sondern vielmehr politische Obstruktion gegen Paschinjans vermeintlich gegenwartsorientierter Politik. Garegin II. wird seit Jahren Korruption und Vetternwirtschaft nachgesagt. Dazu gehörte die umstrittene Ernennung von Garegins Bruders Jesras zum Oberhaupt der armenisch-apostolischen Diözese in Russland und deren Verbindung zu pro-russischen Militärfraktionen wie dem Arbat-Bataillon, das 2024 in einen mutmaßlichen Putschversuch gegen die Paschinjan-Regierung verwickelt gewesen sein soll.
Die öffentliche Auseinandersetzung zwischen Paschinjan und der Kirche bewegt sich bisweilen weit unter der Gürtellinie. Paschinjan beschuldigte den Katholikos, sein Zölibatsgelübde gebrochen und ein Kind gezeugt zu haben. Derartige Vorwürfe tauchten zuletzt vor über einem Jahrzehnt in den armenischen Medien auf. Die jüngsten Äußerungen zu diesen Vorwürfen, darunter auch die von Paschinjans Frau Anna Hakobyan, die Geistliche mit Pädophilen verglich, stellen jedoch eine deutliche Eskalation dar. Als Anhänger der Kirche Paschinjan unterstellten, beschnitten zu sein, bot dieser dem Katholikos öffentlich an, ihm seinen Penis zu zeigen.
Auch wenn der Katholikos die gegen ihn gerichteten Vorwürfe bisher nicht zurückgewiesen hat, behaupten seine Anhänger, dass die Anschuldigungen gegen Artikel des armenischen Strafgesetzbuches verstoßen (Hetq, 14. Februar 2016). Die Regierung wiederum behauptet seit über einem Jahr, dass die Armenisch-Apostolische Kirche gegen die verfassungsmäßige Trennung von Kirche und Staat verstoße, indem sich der Katholikos in die Innenpolitik einmische, unter anderem durch seine Ablehnung des fragilen Friedensprozesses mit Aserbaidschan (siehe EDM, 14. Mai, 5. Juni 2024).
Der amtierende Premier – ein „Verräter“?
Im Zuge der sich verschärfenden Auseinandersetzung wurde Ende Juni 2025 der armenisch-apostolischen Erzbischof der Provinz Tawusch festgenommen, während die Festnahme des Erzbischofs der Provinz Sjunik vorerst am Widerstand seiner Unterstützer scheiterte. Erzbischof Bagrat Galstanjan (Tawusch) hatte 2024 regierungskritische Massendemonstrationen gegen Paschinjans Grenzregulierungen angeführt und dessen Rücktritt gefordert.
Die Opposition, darunter auch Armeniens erster Präsident nach der Unabhängigkeit, Lewon Ter-Petrosjan, wirft Paschinjan „Verrat“ vor und behauptet, Paschinjan habe die Kirche angegriffen, um Baku zu beschwichtigen. Seit der Niederlage Armeniens im Krieg mit Aserbaidschan um Arzach im Jahr 2020 haben sich unter den Wählern Apathie und Desillusionierung breitgemacht. Artsrun Pepanyan, ein ehemaliges Mitglied des Öffentlichen Rates, warnt davor, dass sich dies wahrscheinlich noch verstärken wird: „Die Menschen werden entmutigt sein, und 2026 werden die Behörden weniger Probleme haben … Bei den bevorstehenden Wahlen werden die Menschen … weniger Vertrauen haben oder gar niemandem mehr glauben“ (Hraparak, 14. Juni).
Ex-Präsident appelliert an die nationale Einheit
Ter-Petrosjans Partei Armenischer Nationalkongress betont die Notwendigkeit der Einheit in Armenien. Als die Spannungen zwischen dem Iran und Israel Anfang Juni 2025 in einen Krieg mündeten, hielt sich auch Paschinjan vier Tage mit Angriffen zurück. Seine „Waffenruhe“ im Wortgefecht hielt jedoch nicht lange an, da der russisch-armenische Geschäftsmann und Mäzen Samwel Karapetjan den Katholikos verteidigte und drohte, die Angelegenheit selbst in die Hand zu nehmen, sollte der Streit nicht auf politischem Wege beigelegt werden. Karapetjan war auch einer von vier Geschäftsleuten, die vor fünf Jahren den Großteil einer beispiellosen Kaution in Höhe von 4,1 Millionen Dollar für die Freilassung von Robert Kotscharjan aufbrachten.
Am Tag, nachdem der Nationale Sicherheitsdienst Karapetjan bei einer nächtlichen Razzia in Jerewan nicht hatte festnehmen können, entließ Paschinjan den Chef der Sicherheitsbehörde. Karapetjan wurde daraufhin wegen öffentlicher Aufrufe zum Sturz der Regierung angeklagt.
In der Zwischenzeit hat Paschinjan Schritte unternommen, um Karapetyan sein Eigentum am armenischen Stromverteilungsnetz zu entziehen. Die armenische Gesundheitsbehörde untersuchte derweil einige Filialen der beliebten Pizzakette Taschir von Karapetjan in Armenien und schloss sie (News.am, 18. Juni). Die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, kündigte am 18. Juni 2025 an, dass Moskau die Entwicklungen in Armenien genau verfolge.
Als der armenischstämmige Außenminister Russlands, Sergej Lawrow, am 30. Juni 2025 auf der Außenministerkonferenz der CSTO „ernste Besorgnis“ wegen des „Angriffs auf Autoritäten der armenisch-apostolischen Kirche“, einem „Eckpfeiler der armenischen Gesellschaft“, äußerte, dementierte der armenische Außenminister Ararat Mirsojan derartige Angriffe und forderte Lawrow auf, sich „nie wieder“ in innere Angelegenheiten Armeniens einzumischen. Mirsojan selbst war der Konferenz ferngeblieben.
Darüber hinaus wurden in der dritten Juniwoche Anhänger der Partei Armenische Revolutionäre Föderation – Daschnakzutjun (ARF-D) und andere Anhänger von Erzbischof Bagrat Galstanjan von der Polizei festgenommen, während Paschinjan auf Einladung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan die Türkei besuchte. „(Paschinjan) befürchtet wahrscheinlich, dass bei seiner Rückkehr [aus der Türkei] etwas passieren könnte, und leitet bereits Repressionen ein“, behauptete Galstanjan in Kommentaren gegenüber den Medien.
Kurz und bündig
Die eskalierenden Angriffe der Regierung Paschinjan auf die armenische Nationalkirche erfolgen zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Immer, wenn in der Geschichte Armeniens Staat und Kirche zusammenstanden, war dies für das Land und seine Bevölkerung von Vorteil. Und umgekehrt schwächt aktuell diese Auseinandersetzung Armenien zu einem Zeitpunkt umfassender machtpolitischer Verschiebungen im Nahen Osten.
Warum geht die armenische Regierung dieses Risiko der Eigenschwächung ein? Vermutlich haben jene Kommentatoren recht, die darin Paschinjans Vorbereitung auf die Wahlen im Juni 2026 sehen: Schwächung und Abschreckung seiner Kritiker. Doch der Preis für solche wahltaktischen Manöver wäre zu hoch.