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"Unsere Sprache ist unser Dasein und unsere Identität"

Kurden in der Türkei

Von Kamal Sido

Lange Zeit verleumdete die türkische Regierung die Existenz einer kurdischen Sprache und Kultur in der Türkei. Bis heute halten Unterdrückung und Verfolgung an. So gibt es für die etwa 20 Millionen Kurden in der Türkei zum Beispiel keine einzige kurdische Schule.

Kurdische Kinder haben in der Türkei kein Recht auf Unterricht in ihrer Muttersprache. Foto: Kamal Sido / GfbV.

„Sie sind zu fünf Jahren Gefängnisstrafe verurteilt“, erklärte der vorsitzende Richter des 7. Strafgerichtshofs für schwere Vergehen am 21. November 2018 in der heimlichen Hauptstadt der Kurden Diyarbakir (Kurdisch: Amed) im Südosten der Türkei. Der türkische Richter fällt sein Urteil über Ismail Çoban. Der Kurde wird bereits seit dem Jahr 2016 gefangen gehalten. Vor seiner Verhaftung war Çoban Chefredakteur der in Diyarbakir erscheinenden Zeitung „Azadiya Welat“ (dt.: Die Freiheit der Heimat). Die Zeitung ist mittlerweile verboten. Sie war die einzige kurdisch-sprachige Tageszeitung in der Türkei.

Die Urteilsbegründung des Gerichts: „Herr Çoban hat im Jahr 2013 insgesamt 15 Meldungen und Kommentare im Sinne der PKK veröffentlicht und eine friedliche Lösung der kurdischen Frage gefordert“. Die türkischen Behörden stufen die PKK als „Terrororganisation“ ein. Zum Zeitpunkt der Berichterstattung führte die türkische Regierung aber Friedensgespräche sowohl in Oslo mit Vertretern der PKK, als auch mit dem inhaftierten PKK-Chef Abdullah Öcalan im türkischen Gefängnis. Über die Willkür der türkischen Behörden und Justiz gegenüber der kurdischen Sprache und Kultur berichten internationale Medien immer wieder. Sie ist bekannt.

Der türkische Soziologe Ismail Besikci zum Beispiel war zu keinem Zeitpunkt Mitglied irgendeiner politischen Organisation. Trotzdem musste er immer wieder ins Gefängnis, weil er in seinen Schriften von der Existenz einer Sprache und einer Ethnie namens Kurden sprach, die nach türkischem Verständnis „gar nicht existierte“. Besikci wurde in den vergangenen fünf Jahrzehnten zu insgesamt 100 Jahren Haft und einer Geldstrafe von zehn Milliarden Lira (rund 1,6 Milliarden Euro) verurteilt. Acht Mal hat er eine Strafe antreten und deshalb insgesamt 17 Jahre in türkischen Gefängnissen verbringen müssen.

Kurze Hoffnung,dann verstärkt Erdogan den Druck auf Kurden

Unter dem Druck der kurdischen Proteste in der Türkei musste die Regierung in Ankara in der Vergangenheit schließlich eingestehen, dass eine Sprache und Ethnie namens Kurden auch in der Türkei existiert. Sogar kur-dische Sendungen im Radio und Fernseher wurden ab 2009 erlaubt. Es war eine Lockerung der Verleumdungspolitik gegenüber den Kurden. Im Zusammenhang mit der Lage in Syrien, wo Kurden gemeinsam mit Assyrern/Aramäern, Christen, Yeziden, Aleviten und anderen Minderheiten seit 2011 ein autonomes Gebiet zu etablieren versuchen, beendete Recep Tayyip Erdogan den Friedensprozess mit der PKK jedoch.

Seither unterstützt er verstärkt Radikalislamisten in Syrien und im Irak gegen Kurden und andere Volksgruppen, die sein islamistisches Projekt nicht unterstützen. Erdogan begann eine neue Welle von Repressionen gegen die Opposition in der Türkei. Seit dem Putschversuch im Juli 2016 versucht Erdogan, alle seine Kritiker, vor allem Kurden, verhaften zu lassen und mundtot zu machen. Auch die Kurdische Sprache rückte wieder ins Visier der türkischen Justiz und Behörden.

Keine einzige Schule für 20 Millionen Kurden

Nach unseren Recherchen gibt es in der Türkei für die etwa 20 Millionen Kurden immer noch keine einzige Schule – auch keine private. Vor einigen Jahren wurde den Schülern der Klassen 5, 6 und 7 jedoch erlaubt, sich für eine der sogenannten „yasayan diller“ (dt.: lebende Sprachen) als „Wahlfach“ zu entscheiden. Der Begriff Kurdisch darf in den amtlichen Bekanntmachungen weiterhin nicht verwendet werden. Für das Wahlfach „lebende Sprache“ wurden auch Schulbücher entwickelt.

Ich habe mir diese Bücher angeschaut. Nahezu alle diese Bücher beginnen mit der türkischen Flagge; mit der türkischen Hymne; einem Bild von Atatürk, Gründer der Republik Türkei, und einem Aufruf von ihm an die „türkische Jugend“ (merke: nicht an die Jugend aller Ethnien in der Türkei). All dies verkörpert die seit Jahrzehnten andauernde Verfolgung, Vertreibung und Vernichtungspolitik des türkischen Staates gegen Kurden und andere Minderheiten wie die Aramäer/Assyrer, Armenier, Christen, Yeziden oder Aleviten. In jedem Klassenraum müssen diese vier Elemente aus den Büchern vorhanden sein. Ohne sie darf keine Schule ihre Arbeit aufnehmen. Das gilt auch für Privatkurse in Türkisch-Kurdistan.

Ende November 2018 habe ich mit Freunden der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) in den mehrheitlich kurdischen Gebieten der Türkei Kontakt aufgenommen. Ich wollte überprüfen, ob an irgendeiner Schule in der Türkei Kurdischunterricht existiert. Die Antwort war einstimmig: „Nein, es gibt an keiner Schule muttersprachlichen Unterricht für Kurden!“ Die türkischen Behörden tun alles dafür, dass sich Schüler nicht für die kurdische Sprache als Wahlfach entscheiden. Neben Verboten und Einschüchterungen führen Vertreter des türkischen Staates, wie Lehrer oder andere Beamte, eine regelrechte Hasskampagne gegen alles, was kurdisch ist.

Sie behaupten, dass Kurdisch eine primitive Sprache sei und deswegen weder unterrichtet noch gelernt werden sollte. Darunter leidet die kurdische Sprache und Literatur. Dieses Verhalten der türkischen Behörden führt unter anderem dazu, dass sich kaum Schüler für die kurdische Sprache als Wahlfach interessieren. Wenn einige Schüler sich auf Drängen ihrer Eltern oder von sich aus dann doch für das Erlernen der kurdischen Sprache entscheiden, geben die Schulleitungen an, dass es keine Lehrer für das Fach Kurdisch gebe. Nach Informationen der GfbV wurden in den letzten Jahren aber etwa 1.000 bis 2.000 Lehrer für die kurdische Sprache an verschiedenen Instituten ausgebildet. Kein einziger Lehrer wurde jedoch eingestellt.

Einige Institute, die sich um das Kurdische gekümmert haben, wurden nach dem Putschversuch im Juli 2016 verboten und viele Mitarbeiter verhaftet. Nach unseren Informationen gibt es nur noch an drei Universitäten, in Mardin, Bingöl und Tunceli (Dersim), Fachbereiche für die kurdische Sprache. An allen drei Universitäten wird der kurdische Dialekt Kurmanci gelehrt. In Bingöl und in Tunceli wird auch der Dialekt Zaza angeboten. Auch an den Universitäten werden Professoren und Studierende eingeschüchtert: Dr. Kadri Yildirim unterrichtete zum Beispiel einige Zeit an der Artuklu-Universität in Mardin Kurdisch. 2014 wurde er zeitweise verhaftet und von der Universität ausgeschlossen. Im Februar 2015 traf ich ihn in Diyarbakir.

Mit dem radikalen Islam gegen die Sprache der Kurden

Mit der aggressiven Türkisierung und Islamisierung in der Türkei durch die islamistisch-nationalistische Partei AKP von Präsident Erdogan wird der Druck auf die kurdische Sprache auch in den Moscheen größer. Nicht selten wird in den Kurdengebieten der Türkei die türkische Sprache als die Sprache des Islam bezeichnet. Das Kurdische hingegen sei „keine gleichwertige Sprache“. Durch diese islamistischen türkisch-nationalistischen Phantasien werden gläubige Kurden unter Druck gesetzt, ihre Muttersprache nicht zu lernen und von den Forderungen nach einer Gleichberechtigung zwischen dem Türkischen und Kurdischen abzusehen. „Unsere Muttersprache ist unser Dasein und unsere Identität. Sie ist Speicher für unsere Geschichte und Kultur. Wenn unsere Sprache verboten wird oder ausstirbt, verschwinden auch wir“, sagen die Kurden.

Aus pogrom-bedrohte Völker 310 (1/2019)