Von Lion Nepomuk Glückert

Protestbewegungen sind ein wichtiges Korrektiv unserer Gesellschaft. In der Türkei zeigten die Gezi-Park-Proteste von 2013 bis hin zu den Boykottbewegungen nach der Festnahme des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu im Jahr 2025, dass Protest unter repressiven Bedingungen widrig, aber möglich ist. In den letzten zwei Jahrzehnten haben die Bürgerinnen und Bürger der Türkei kreative Formen gefunden, ihre Stimme gegen Machtmissbrauch und Einschränkungen demokratischer Rechte zu erheben. Solche Bewegungen sind nicht nur Ausdruck des politischen Willens einer Gesellschaft, wenn Institutionen wie Justiz, oder freie Medien ihre angestammte Kontrollfunktion verlieren.
Zugleich ist ziviler Protest verletzlich. Autoritäre Regierungen setzen auf digitale Überwachung, gezielte Einschüchterung und strukturelle Einschränkungen, um Protestbewegungen im Keim zu ersticken. Gerade deshalb bleibt es eine zentrale Aufgabe demokratischer Gesellschaften und internationaler Institutionen, Formen zivilen Protests als legitimen Ausdruck von Freiheit zu schützen und solidarisch zu unterstützen. Ziviler Protest ist nicht nur ein Mittel gegen lokale Ungerechtigkeit, sondern ein globaler Pfeiler für Demokratie und Menschenrechte.
Der Auslöser
Nach dem landesweiten Wahlsieg der größten Türkischen Oppositionspartei Cumhuriyet Halk Partisi (CHP – Republican People’s Party) in den Lokalwahlen 2024, konnte man das Gefühl bekommen, die Türkei werde sich durch demokratische Mittel reformieren lassen. Nachdem die Regierungspartei Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP – Justice and Development Party) in den Präsidentschaftswahlen 2023 ihre politische Stellung halten konnte, gewann die CHP nur 10 Monate danach in den Lokalwahlen 35 Provinzen, während die regierende AKP als zweitstärkste Partei 21 Provinzen gewann. Besonders die größten Städte und Metropolen blieben – oder fielen – in die Hand der Oppositionspartei CHP. Nach dem traumatischen und in weiten Teilen angefochtenen Wahlergebnis der Präsidentschaftswahl, zu dem bekannte Türkei-Exilanten, wie Can Dündar, skeptisch bis fatalistisch Stellung nahmen, schien für die demokratischen Bewegungen mit den Lokalwahlen 2024 eine Wand des Schreckens durchbrochen zu sein. Es schien wieder so, als könnten Wahlen bestimmen, wer das Land regiert, und nicht die Regierung den Ausgang der Wahlen.
Das war 2024. Nicht mal ein Jahr später wurde der Bürgermeister von Istanbul, Ekrem Imamoglu (CHP), kurz vor dem Ende des Monats Ramadan in seinem Zuhause festgenommen. Mit ihm wurden am selben Tag noch über 100 weitere Personen von der türkischen Polizei in Gewahrsam genommen. Viele von ihnen, darunter Imamoglu, sitzen noch heute in Untersuchungshaft. Imamoglu war einer der Kandidaten der Oppositionspartei CHP, der einen wichtigen lokalen Wahlsieg im Jahr 2024 errungen hatte. Außerdem galt er als der vielversprechendste Gegenkandidat einer Erdogan geführten Regierung in den kommenden Präsidentschaftswahlen 2028. Imamoglu wurde vorgeworfen, terroristischen Vereinigungen nahe zu stehen. Ein 2016 erlassenes Gesetz sieht es vor, dass anstelle von der gewählten LokalpolitikerIn, die nationale Regierungspartei eine Vertretungsperson (kayyum) ihrer Wahl bestimmen kann, interimsweise den Posten zu besetzen. Der Verhandlungsbereitschaft der CHP, der Internationalen Reaktionen und nicht zuletzt zehntausenden türkischer Bürgern und Bürgerinnen ist es zu verdanken, dass diese Anklage zurückgezogen wurde. Nun sitzt stellvertretend Nuri Aslan von der CHP im Bürgermeistersessel, und darf sich freuen, dass seine Mittelmäßigkeit verglichen mit Ekrem Imamoglu ihm vielleicht keine nationalen Wahlsiege einbringen wird, er dafür als freier Mann Istanbuls Lokalpolitik leiten darf.
Reaktion
Die Antwort auf eine derart arbiträre und offensichtlich politische Aktion der Exekutive kam prompt vom Volk. Die Stimmen berühmter BürgermeisterInnen aus Europa und die Kritik des Europarats an der Verhaftung als Angriff auf den souveränen Willen des Volkes verliefen folgenlos im Sand. Das von Erdogan ausgehölte System der Gewaltenteilung lies keine investigative Judikative zu und beschränkte die kritische Berichterstattung durch unabhängige Medien. Die Kontrollfunktion lag wiederum von einem Tag auf den anderen in den Händen der TürkInnen, die für demokratische Werte und gegen willkürliche Gewahrsamnahmen politischer Akteure auf die Straße gingen. Die sogenannte fünfte Gewalt im Staat machte sich daran, ihren Unmut über die aktuelle politische Situation öffentlich kundzutun. Internationale Medien berichteten über Massendemonstrationen in Sarachane, dem Sitz des Istanbuler Rathauses, um Solidarität mit Ekrem Imamoglu und seinen Schicksalsgenossinnen zu zeigen. Die Gegenreaktion des Regimes war abzusehen, und doch gruseliger als vermutet. Die von der Polizei eingesetzte Gesichtserkennungssoftware erlaubte es, unliebsame DemonstrantInnen Stunden nach den eigentlichen Demonstrationen zuhause abzuholen, und in Untersuchungshaft zu nehmen – oft mitten in der Nacht.
Zusätzlich zu diesem psychologischen Druckmittel, griff die Regierung strukturell in das Revolutionsmomentum ein; wie beim großen Erdbeben in Antakya 2023 wurde Breitbandinternet gedrosselt und soziale Netzwerke geblockt. Außerdem wurden die Ramadanferien von einem verlängerten Wochenende zu einer ganzen freien Woche für öffentliche Einrichtung und Angestellte erklärt. Der Großteil der demonstrationswilligen Demografie setzte sich damals aus Studierenden zusammen, von denen viele für die Universität nach Istanbul gezogen waren. Diese Studierenden konnten sich also entscheiden, ihre wertvolle und unverhoffte freie Zeit mit der eigenen Familie zu verbringen, oder nach Istanbul zurückzukehren, um unter repressivsten Umständen für Demokratie auf die Straße zu gehen.
Die Waffen der Schwachen
Doch mit kreativen Mitteln lässt sich politischer Protest unterschiedlich gestalten. Organisch organisierte Low-Tech kann die die zentralisierte High-Tech des Gegners überwinden. Bekannt sind beispielsweise verschiedene Formen von Protestarchitektur in deutschen Forsten, oder die dezentrale Protestorganisation in den jüngsten Demonstrationen in Los Angeles, inspiriert durch jahrzehntelange Erfahrung Süd- und Zentralamerikanischer Protestarten. Ebenfalls hat sich der Demonstrationsfokus der jungen Türkinnen und Türken seit Gezi entwickelt. Anstatt sich auf der Straße vor die gesichtserkennden Kameras (und die akute Konfrontation mit der türkischen Polizei selbst) zu stellen, erfand sich die Protestbewegung neu. Auf der analytischen Ebene beschrieb James C. Scotts Konzept der „Weapons of the Weak“ bereits 1985 alltägliche Formen des Widerstands. Diese subversiven Formen von Widerstand ermöglichen marginalisierten Gruppen ohne offene Konfrontation auf bestehende Machtasymmetrien zu reagieren. Eine Lesart der anthropologischen Observation Scotts wurde im Laufe der letzten Jahre besonders im Rahmen von digitalen Autoritarismen angewendet.
Die neue, führungslose Protestbewegung versuchte durch wirtschaftlichen Boykott dem ökonomischen Metabolismus des Erdogan-Regimes zuzusetzen. So wurden in den kommenden Monaten nach der Verhaftung von mehr als hundert politischen Akteuren der Konsum von Produkten bestimmter regierungsnaher Firmen vermieden, bestimmte Supermarktketten, Banken oder Medien boykottiert, die offen mit der Regierung kooperierten oder İmamoğlus Verurteilung unterstützten. Die breite Akzeptanz des Boykotts in der Gesellschaft lag vermutlich daran, dass er dezentral organisiert, über soziale Netzwerke verbreitet und besonders die Teilnehmenden nicht vor der Staatsgewalt in Gefahr setze. Mit dem Boykott wurde versucht, ökonomischen Druck auf die wirtschaftlichen Eliten – und Unterstützende Erdogans – aufzubauen, die ihren Teil zu der Stabilität des Regimes beitragen. Zusätzlich zum Boykott bestimmter Unternehmen, wurde ein „zero buying boycott“ – einen ganzen Tag in der Woche einfach mal gar nichts zu konsumieren – ausgerufen.
Ziviler Protest in latent autokratischen Regimen
Die Übersetzung dieser Form von Protest von der subalternen Landbevölkerung in Scotts Studie auf die urbane, säkuläre Mittelschicht in Istanbul zeigt einerseits die Bedeutsamkeit von dezentralen (diffusen) kollektiven Protestmitteln im Umgang mit repressiven Regimen, allerdings auch die immer kleiner werden oppositionellen Spielräume, die die Regierung jeglicher Form von Dissens erlaubt. Als sich die Proteste im März 2025 auf mehrere Städte im ganzen Land ausweiteten, manifestierte sich Gezi teleskopisch in der kollektiven Rückbesinnung. „Is Gezi back?“ – nicht nur die Bevölkerung stelle sich diese Frage, sondern auch die politischen Eliten, die es nach Gezi geschafft haben, mehr und mehr Macht auf das Amt des Präsidenten zu konzentrieren. Dazu entwickelt sich Erdogans AKP kontinuierlich weiter. Von glühender Europhilie zu offener Konfrontation mit Europa, Unterdrückung kurdischer Aktivisten und PolitikerInnen zu Öcalans neuem aufpolierten Image und die Konsensfabrik (Chomsky und Herman) der regierungsnahen Medien zeugen von einem parteilich überlebenswichtigen Sozialkonstruktivismus in Echtzeit. Dieses ist nur ein Fragment der Analyse des Demokratieverständnisses, dass die Türkei seit den Gezi Park Protesten 2013 kontinuierlich weiterentwickelte. Man könnte diese Form von Regierung als latent autokratische Demokratie bezeichnen, oder schlicht latente Autokratie nach benachbarten Vorbilderstaaten wie Aserbaidjan oder Belarus.
Die Auswirkungen dieser Form von Alltagswiderstand sind schwer messbar. Bis zu diesem Zeitpunkt befinden sich noch eine große Zahl an politisch Festgenommenen in Haft und die ökonomischen Schäden am Regime Erdogan lassen sich nicht unabhängig prüfen und sind wahrscheinlich eher gering. Dennoch ist und bleibt es wichtig, die „Waffen der Schwachen“ als legitime Protestform zu lesen und solidarisch international zu unterstützen. Welche Zukunft die neue alte Regierung der Türkei auch immer bringt, es bleibt zu hoffen, dass die Zivilbevölkerung Wege finden wird ihren Dissens zu materialisieren und die Machtverhältnisse im Staat auf demokratische Weise zu hinterfragen.