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Krieg in der Ukraine

Interview mit Petro Grygorichenko, Präsident des Roma-Kongresses in der Ukraine: „Kyjiv ist mein Zuhause“

Petro Grygorichenko (links) schildert im Interview die Situation in der Ukraine. Sein Neffe, Edward Grigoriczenko, übersetzt. Foto: © GfbV

Roma in der Ukraine waren vor dem Krieg systemischer Diskriminierung ausgesetzt. Jetzt reißt überdies der russische Angriff alte Traumata wieder auf. Petro Grygorichenko, Präsident des Kongresses der Roma in der Ukraine, berichtet von der Situation vor Ort, dem Zeitpunkt, als er seine Heimat verlassen musste und seiner Suche nach Wegen, den Menschen aus und in der Ukraine zu helfen.

Am 24. Februar 2022 griff die russische Armee die Ukraine an. Seither herrscht Krieg. Wie haben Sie diesen Tag erlebt?

Für mich persönlich war die Nachricht, dass Russland die Ukraine angegriffen hat, keine große Überraschung. Die Schritte, die das russische Parlament zuvor unternommen hatte, wiesen alle in diese Richtung. Durch die russische Anerkennung der selbsternannten sogenannten Republiken Luhansk und Donezk hat die Führung des Landes sich erlaubt, militärische Gewalt auf dem Territorium anderer Länder anzuwenden. Aber es blieb eine schwache Hoffnung, dass die russische Führung ihre aggressiven Absichten gegenüber der Ukraine nicht umsetzen würde. Russische Historiker und Politiker sind sich auch der Rolle und Bedeutung der Kiewer Rus und ihrer Städte bei der Gestaltung der modernen Landkarte bewusst.

 

Roma sind eine ethnische Minderheit in der Ukraine, die bereits vor dem Krieg oft starker Diskriminierung ausgesetzt waren. Würden Sie mir die Situation der Roma vor Ort beschreiben?

Die Roma-Gemeinschaft in der Ukraine ist eine von 135 nationalen Minderheiten. Nach Angaben unserer Roma-Organisationen gibt es in der Ukraine etwa 400.000 Menschen mit Roma-Nationalität. Die offiziellen Statistiken geben aber eine deutlich niedrigere Zahl an. Ein solcher Unterschied in den statistischen Daten ist eine der Ursachen der Diskriminierung. Ein Staat, der keine genauen Informationen hat, kann keine Strategien in verschiedenen Lebensbereichen einer bestimmten Bevölkerungsgruppe planen und entwickeln. Ukrainische Roma waren vor dem Krieg mit systemischer Diskriminierung in allen Bereichen konfrontiert, insbesondere im Gesundheitswesens, der Bildung und der Wohnungspolitik. Auch herrschte gegen Roma in der Bevölkerung das höchste Niveau der Intoleranz verglichen mit allen anderen nationalen Minderheiten. Dies wird durch die Forschung von Soziologen bestätigt. Auf staatlicher Ebene stellte der Ombudsmann fest: 80 Prozent der Romavertreter glauben, dass die Verletzung ihrer Rechte auf eine negative Einstellung in der Gesellschaft zurückzuführen ist. Ein klares Beispiel waren die Lynchmorde in Lemberg. Dort wurden Roma wegen geringfügiger Vergehen getötet. Die Strafverfolgung und Aufklärung dieser Verbrechen hat leider komplett versagt damals. Aber jetzt gibt es keine Unterschiede im Krieg. Wir sind alle Ukrainer – vereint in einem Leiden und der Existenz einer gemeinsamen Bedrohung.

 

Sie sind aus Kyjiv. Wann haben Sie sich entschieden, zu fliehen?

Unser Leben war in Gefahr. Am 6. März haben wir, meine Tochter und ich, entschieden, dass wir nicht mehr bleiben konnten. In den Tagen davor haben wir die Einschläge von Bomben gehört. Es wurde die ganze Zeit geschossen. Wir hatten die Lichter in unserem Haus grundsätzlich aus. Die Fenster hatten wir so gut wie möglich abgeklebt, weil die Explosionswellen sie brechen könnten. Wir mussten uns vor Granatsplittern schützen. Einen Bunker hatten wir nicht, aber einen Heizraum, in dem die Wände etwas dicker waren. Da haben wir uns versteckt. Aber dann ist eine Rakete wenige hundert Meter von unserem zu Hause entfernt in ein anderes Haus eingeschlagen. Drei Etagen wurden komplett zerstört – fast herausgerissen. Das war der Zeitpunkt, an dem wir wussten: Jetzt müssen wir weg. Ich danke meinem Neffen, der mich schon vorher immer angerufen und gesagt hatte, ich solle zu ihm nach Deutschland kommen. So hatten wir einen sicheren Ort, an den wir gehen konnten. Aber die Entscheidung ist mir sehr schwer gefallen. Kyjiv ist mein Zuhause. Ich möchte zurückkehren, sobald es geht.

 

Wie ist es Ihnen auf der Flucht ergangen? Und welche Erfahrungen machen Roma-Angehörige auf der Flucht?

Die Flucht war sehr schwer. Wir sind über Lemberg geflohen und hatten nur wenig Gepäck dabei. Massen an Menschen waren unterwegs. Die Züge und Busse waren voll. Viele kamen nicht mehr hinein. Wir sind von Lemberg nach Warschau gefahren. Dort blieben wir zwei Tage, bis uns eine Gruppe mit nach Dresden mitgenommen hat. Da haben wir in einem Auffanglager übernachtet, bevor wir zu meinem Neffen weiterreisen konnten. Bei dieser Gelegenheit möchte ich den Regierungen und den Bevölkerungen von Polen, Deutschland, Rumänien, der Slowakei, Ungarn und Tschechien für ihre Solidarität, aktive Hilfe und Barmherzigkeit bei der Aufnahme von Flüchtlingen, einschließlich Roma-Flüchtlingen, danken! Insbesondere Polen hat mehr als 1.000.000 Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen. Dafür spreche ich meine aufrichtige Wertschätzung und meinen Respekt aus. Ich, und mit Sicherheit auch viele andere Geflohene, werden das nie vergessen. Gerade bei Roma brechen in diesen Tagen alte Traumata wieder auf. Wir erinnern uns an den Zweiten Weltkrieg und den Völkermord an den Roma durch Nazi-Deutschland von 1933 bis 1945. Mehr als 2 Millionen Roma fielen dem Morden zum Opfer. Viele wurden auf Straßen, Feldern, in den Wäldern und Schluchten Europas erschossen. In der Ukraine sind Babyn Jar in Kyjiv, Drobitsky Jar in Charkiw, Massengräber in den Wäldern von Cherson, Kirovograd, Cherkasy, Vinnytsia und Volyn nur einige Namen von Orten der Verbrechen. Es gibt kein Gebiet, in dem nicht hunderte und tausende Roma getötet worden sind.

Wir erinnern uns auch an die Massenhinrichtungen von Roma unter dem stalinistischen Regime. Und wir sind uns der ethnischen Säuberungen bewusst, die während des Zerfalls Jugoslawiens stattfanden und bei denen wieder tausende Roma durch die Hände aller gegnerischen Seiten starben. Die gesamte Geschichte der Roma war im vergangenen Jahrhundert von solch tragischen Ereignissen geprägt. Umso bitterer ist es, dass Putin jetzt sogar Gedenkstätten wie Babyn Jar beschießen lässt, die an die Verbrechen der Nazis erinnern. Putin, der behauptet, gekommen zu sein, um die Ukraine zu „denazifizieren“.

 

Sie haben es nach Deutschland geschafft. Aber wahrscheinlich haben Sie Angehörige und Bekannte, die noch in der Ukraine ausharren. Haben Sie Kontakt? Wie geht es ihnen?

Ich habe viele Verwandte und Freunde, die aus verschiedenen Gründen die Ukraine nicht verlassen können. Sie müssen sich um ältere Eltern, Verwandte und bettlägerige Kranke kümmern. Es gibt auch Menschen, die ihre geliebten Tiere nicht verlassen können. Das ist auch ein Problem. Viele hoffen auf ein schnelles Ende dieses Krieges. Alle von ihnen leiden vor allem an einen akuten Mangel an Medikamenten und insgesamt medizinischer Versorgung. Oft gibt es kein Wasser, Strom, Gas, Lebensmittel. Dies ist vor allem in Gebieten der Fall, in denen gekämpft wird. Die Menschen sitzen in Kellern, wenn sie welche haben. Ein Luftangriffsalarm kann mehrmals am Tag ausgelöst werden.

 

Sie sind Präsident des Kongresses der Roma der Ukraine. Wie versuchen Sie, die Menschen in der Ukraine zu unterstützen?

Als „Kongress der Roma der Ukraine“ haben wir Kontakt mit vielen Roma in verschiedenen Städten und Regionen der Ukraine. Wir haben Informationen darüber, wo sie sind, wie es ihnen geht und wie sie die Schrecken des Krieges ertragen. Wir organisieren Sammlungen und versuchen, gezielt Hilfe bereitzustellen: für die Menschen in Kyjiv und in verschiedenen anderen Städten. Aber der Transport gestaltet sich als sehr schwierig. Da suchen wir im Moment noch nach einer Lösung und Unterstützung.

 

Und hier in Deutschland? Was können Sie und was können wir alle tun, um zu helfen?

Was die Menschen brauchen, ist natürlich Sicherheit, eine Unterkunft, ebenso die Hilfe von Psychologen, da viele Flüchtlinge traumatisiert sind und sich hier akklimatisieren müssen. Sozialarbeiter sind sehr hilfreich. Außerdem brauchen die Menschen eine Perspektive. Sie brauchen Sprachkurse, Kinder brauchen Bildung. Die Erwachsenen brauchen Hilfe, um sich mit den Grundlagen des Rechts im Land vertraut zu machen. Insgesamt müssen die Geflüchteten in Kontakt mit der lokalen Bevölkerung kommen. Sehr wichtig ist die Unterstützung bei Übersetzungen – nicht nur für Ukrainisch und Russisch, sondern auch für Romani, die Sprache der Roma. Einige ältere Roma sprechen vor allem Romanes und weniger Ukrainisch.

[Info]

Johanna Fischotter führte das Interview am 31. März 2022 per Videoanruf.

Edward Grigoriczenko, der Neffe von Petro Grygorichenko, dolmetschte während des Interviews zwischen Ukrainisch und Deutsch. Er selbst ist aktuell sehr aktiv in der Flüchtlingshilfe und unterstützt Schutzsuchende, wo er kann.

Petro Grygorichenko ist ukrainischer Staatsbürger und Roma. Sein ganzes Leben hat er in der Ukraine verbracht. An der Universität von Odessa studierte er Biologie, bevor er an der Universität von Kyjiv Jura studierte. 1991 gründete er die erste Organisation für Roma in der Ukraine und half, weitere an verschiedenen Orten ins Leben zu rufen. Seither kämpfte er unermüdlich für die Rechte der Roma in seinem Heimatland. 2002 schlossen sich die Roma- Organisationen zum Kongress der Roma in der Ukraine zusammen, dessen Vorsitzender er wurde.